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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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sie nichts verloren. Da zählt nur eines: oben oder unten, gewinnen oder verlieren.«
    »Ach so? Wo würdest du dich denn da einordnen?«
    Die Entfernung zwischen uns ist manchmal kaum größer als die Breite einer Rasierklinge, manchmal so groß, als wären wir nicht blutsverwandt, sondern befänden uns nur zufällig auf demselben Bahnsteig und warteten auf denselben Zug.
    »Wann fährst du?« In ihrer Stimme herrscht kurz Eiszeit.
    »Um acht?«
    »In der Früh?«
    »Ja.«
    »Zieh dir eine warme Unterhose an. Und dicke Socken. Der Frost hat Berlin fest im Griff, es soll in der Nacht minus zwanzig Grad haben. Noch mal fünf Grad kälter als bei uns.«
     
    Im selben Augenblick, da ich ins Taxi steige, bereue ich es, dass ich mich für den Zug entschieden habe. Ich stelle mir eine Menschenmenge vor, Widergänger meiner selbst, die sich – anstatt auszuschlafen – durch den kalten Morgen zum Bahnhof quälen, in Mantel, Schal und Mütze gehüllt, die klammen Finger in Handschuhen, den Nebelhauch ihres Atems vor den geröteten Gesichtern. Stundenlang werde ich mir mit ihrem Husten und Niesen ein Abteil teilen und mir anhören müssen, wie sie mit ihren Zeitungen rascheln und mit ihren Handys telefonieren. Für gewöhnlich macht mir das nichts aus, im Gegenteil. Nach ein paar Tagen am Computer komme ich mir manchmal vor wie ein bettlägeriger Patient in der Krankenhausstille seines Einzelzimmers, der sich danach sehnt, dass die Tür aufgeht und eine Krankenschwester mit dem Mittagessen oder der Tagesration an Medikamenten hereinkommt. Zu gerne würde ich das geschlossene Fenster meiner Bildschirmwelt weit aufreißen und die wuchernde Verzweigung des World Wide Webs für einen mickerigen Ast opfern, auf dem ein Vogel vor sich hin zwitschert. Mich dürstet nach der greifbaren Realität, ihren Gerüchen und Geräuschen.
    Der schwarze Wintermantel drückt mich in den Autositz, er lastet auf mir wie eine Verpflichtung, der nachzukommen mir widerstrebt. Es kann kaum ein weniger geeignetes Kleidungsstück für jemanden geben, der sich auf die Reise macht, als diesen Mantel. Er verleiht mir – noch dazu bei Minusgraden – etwas Schwerfälliges und befördert die Ungewissheit und den Zweifel, die mit meinem Wochenendtrip verbunden sind. Hätte ich mich für die Daunenjacke entschieden, wären vielleicht die angenehmen Aspekte des Reisens deutlicher hervorgetreten. Auf jeden Fall wäre ich leichtfüßiger ins Taxi ein- und nach zwanzig Minuten Fahrtzeit wieder ausgestiegen. Das Taxi bleibt vor dem Bahnhof stehen und der Taxifahrer hievt meinen Koffer aus dem Kofferraum. Trotz der Kälte macht er sich abschließend die Mühe, mir Glück zu wünschen, dass mein Zug überhaupt fährt – die eine oder andere Fahrt an diesem Morgen wäre seines Wissens schon ausgefallen. Als ich in der Vorhalle bin, blicke ich zuerst auf die Tafel, auf der die Abfahrten angezeigt sind. Sollte mein Zug nach Berlin ausfallen, handelte es sich um einen Fall von höherer Gewalt, ich müsste mich noch nicht einmal bei meiner Halbschwester entschuldigen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, es als ein Zeichen dafür zu nehmen, dass meine Fahrt unter keinem guten Stern steht und ich gut daran täte, mein Vorhaben noch einmal zu überdenken. Was auf der Anzeigetafel steht, erstickt derartige Versuche, im letzten Augenblick den Schwanz einzuziehen, im Keim: In der nächsten Stunde fallen tatsächlich zwei Züge aus, meiner gehört jedoch nicht dazu.
    Die Kälte fördert das Verschlossene, Kurzangebundene an den Menschen, sie hasten aneinander vorüber, als hätten sie Angst, festzufrieren, wenn sie sich auf offener Straße auf ein Gespräch einlassen oder auch nur einen längeren Blick riskieren. Unsicher bewegen sie sich über die am Asphalt festgefrorenen Schneeschlieren, kleine Mondlandschaften, in denen bei den herrschenden Temperaturen jede Form von Unrat zu einer winzigen Eisskulptur wird; Zigarettenkippen, ein abgerissener Teil einer roten Papiergirlande, Hundekot. Wenn die Zugreisenden und jene, die sie zum Bahnsteig begleiten oder von dort abholen, in die Bahnhofshalle kommen, sind sie selbst noch ein Teil dieser eingefrorenen Welt, von der sie nun eine elektrische Schiebetür trennt. In der Cafeteria des Bahnhofs schmilzt das Eis, die Mäntel und die Münder öffnen sich, ohne dass die für diesen Ort typische Geschäftigkeit einsetzt. Normalerweise befindet man sich hier zwischen Tür und Angel, die einen sind kurz zuvor einem Zug entstiegen, die

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