Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
Vom Netzwerk:
stundenlang durch den Osten Deutschlands führt – durch Saalfeld, Jena, Leipzig und Wittenberg –, lässt mich seit langer Zeit wieder einmal an die Schule denken, im Speziellen an Gregor, unseren Klassensprecher am Gymnasium. Als die Mauer fiel und die Menschen über die offenen Grenzen strömten, versuchte er unseren Klassenvorstand davon zu überzeugen, unsere geplante Klassenfahrt nach Wien ins Wasser fallen zu lassen und stattdessen auf der Stelle für ein paar Tage nach Berlin zu fahren, um an diesem nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Geschichte einzigartigen Ereignis mit eigenen Augen teilhaben zu können. Selbstverständlich verschwendete unser Klassenvorstand keine Minute an diese Idee, redete sich jedoch darauf hinaus, dass eine solche Fahrt auf die Schnelle nicht zu organisieren sei, ganz zu schweigen davon, dass die für diese Zeit anberaumten Schularbeiten sich nicht so mir nichts, dir nichts verschieben ließen. Er hatte ein vom jahrzehntelangen Bergwandern auch im Winter braungebranntes Gesicht, was seinen müden Blick und seine erschöpfte Haltung nur noch deutlicher hervortreten ließ. Er stand kurz vor der Pensionierung, in den Jahren, in denen er uns in Mathematik und Chemie unterrichtet hatte, war es mit seiner Konstitution und seinem Engagement stetig bergab gegangen. Er hatte am Ende ein spartanisches Verständnis vom Unterricht, alles, was über Bücher, Hefte und Prüfungen hinausging, konnte weder mit seinem Interesse noch mit seinem Verständnis rechnen. Gregors Vorschlag muss sich in seinen Ohren geradezu absurd angehört haben.
     
    »Wenn du glaubst, ich kann dir darüber was erzählen, muss ich dich enttäuschen. Ich hab in Köln studiert und den Mauerfall auch nur im Fernsehen miterlebt.«
    Isa lächelt und nippt an ihrem Grappa. Wir sitzen in einer Trattoria unweit ihrer Wohnung. Sie wollte für mich kochen, aber ich habe darauf bestanden, dass sie sich keine Umstände macht und mit mir essen geht. Sie schien mir ein wenig enttäuscht, behauptete, dass ihre Spaghetti bolognese und ihre Lachslasagne berühmt wären, also fügte ich hinzu, dass ich, sollte ich ihr nach dem Essen immer noch sympathisch sein, geradezu darauf bestünde, beim nächsten Mal von ihr bekocht zu werden. Sie lachte und ermahnte mich, mich ordentlich ins Zeug zu legen, um ja in den Genuss ihrer Kochkünste zu kommen.
    Wenn Isa lacht, entblößt sie die Zähne, manchmal den Rachen, und wirft dabei ein wenig den Kopf zurück, sodass ihre braunen Locken durcheinandergeraten – eine Unordnung, der sie im nächsten Moment Herr zu werden sucht, indem sie sich mit zwei knappen, aber kräftigen Zügen durch die Haare fährt. Sie ist keine Frohnatur – dennoch sind ihr Lachen und ihre funkelnden Augen ansteckend, um nicht zu sagen: erotisch. Ich bemerke die verstohlenen Blicke der Männer an den anderen Tischen. Sie ist sich ihrer Wirkung bewusst und badet ein bisschen darin, indem sie mit Blicken, die niemand Bestimmten meinen, um sich wirft, als würde sie rasch eine Anzahl Kerzen im Raum anzünden.
    Meine Halbschwester Isa heißt eigentlich Isabel und hat mich vom Bahnhof abgeholt, ohne zu wissen, wie ich aussehe – was sie selbst als »typische Isa-Aktion« bezeichnete. Ich habe ihr vorgeschlagen, per E-Mail Fotos auszutauschen, sie weigerte sich. Wenn du mir ein Foto von dir schickst, werde ich es nicht anschauen, schrieb sie mir. Ich verstand nicht, warum, und spielte insgeheim mit dem Gedanken, den Kontakt nicht zu vertiefen. Ihre Antwort erinnerte mich nämlich weniger an meinen Vater als an meine Mutter, und eine überspannte Frau in meiner Familie reichte mir. Isa war nach eigenem Bekunden neugierig darauf, ob es eine Ähnlichkeit gab, die uns einander auf dem Bahnsteig zweifellos als Bruder und Schwester erkennen ließ. Sie schaffte es zu meiner Überraschung, mich für ihre Idee zu gewinnen – was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass ich einmal selbst von mir überrascht sein wollte.
    Als ich aus dem Zug ausstieg, sah ich mich in der Menge um, die die Ankommenden erwartete, konnte aber auf den ersten Blick keine Frau erkennen, die Züge meines Vaters aufwies. Dass ich mich an diese Züge selbst nur skizzenhaft erinnern konnte, spielte dabei keine so große Rolle, da ich ihm nach Meinung aller, die ihn gekannt haben, sehr ähnlich sah. Die Menschen gaben sich förmlich die Hand, umarmten einander oder fielen einander um den Hals, halfen dem anderen bei seinem Gepäck oder

Weitere Kostenlose Bücher