Das fuenfunddreißigste Jahr
Knirschen des Waldbodens unter den Füßen. Allein in ihrer Wohnung hält sie die Stille nicht aus. Entweder sie hat Fernseher und Radio an, telefoniert mit jemandem oder sie putzt und räumt die ohnehin saubere und aufgeräumte Wohnung auf, sodass mit dem Badputzen, Staubsaugen und Staub von den Rücken der Bücher Wedeln die Wohnung voller Arbeitsgeräusche ist, die sie kurzfristig vergessen lassen, dass ihre Arbeitskraft in der Firma nicht mehr benötigt wird und sie allein zuhause ist. Neben Alois kann sie sich den ziselierten Wohllauten der Stille hingeben, ohne einsam zu sein, ja die Stille schützt sie geradezu und geleitet sie in Form ihres Bruders, der es nach der Scheidung von seiner Frau vorzog, allein zu bleiben, sicher durchs Gehölz.
Einen Höhepunkt ihrer Zusammenkünfte stellt das Verspeisen eines gekochten Saukopfs dar. Der Saukopf schwemmt eine Menge an Treibgut an, das der Kindheit entstammt. Beim Saukopfessen gehe – so meine Mutter – sogar Alois aus sich heraus und spreche über seine Vergangenheit. Das erste Mal, als Alois sie mit dem Saukopf überraschte, hätten sie beide zu weinen begonnen, wobei das Schöne daran gewesen sei, dass man sich dem anderen nicht erklären musste. Sie hätten einander ohne Worte verstanden, jeder wusste, was im anderen vorgeht. So etwas – so meine Mutter – komme im Leben nicht allzu oft vor.
»Dem Alois kann ich vertrauen wie sonst niemandem. Blind. Wenn ich ihm etwas erzähle, dann ruhen meine Worte in ihm wie in einem Grab. Sagen tut er nichts dazu. Darum geht es auch gar nicht. Ich erwarte mir ja von ihm keine Hilfe. Wie sollte er mir auch helfen? Er hat ja nie über den Horizont seines Waldes hinausgesehen. Ein Hinterwäldler im wahrsten Sinne.« Wir müssen beide lachen, es ist ein kostbarer Moment, im Humor zueinanderzufinden. »Von Frauen hat er sowieso keine Ahnung. Er ist ein guter Kerl, aber in diesem Punkt ist er wie alle Männer. Ihm kann ich Dinge sagen, die ich sonst niemandem sagen kann. Nicht einmal dir. Dir schon gar nicht! Wenn ich dir was sage, weiß ich zwar, dass du es nicht weitererzählst. Aber ich muss immer Angst haben, dass du mich zur Schnecke machst für den x-ten Irrtum, den ich deiner Ansicht nach begangen habe. Das kann ich mir dann bis an mein Lebensende anhören. Nein danke!«
»Ich weiß doch ohnehin alles von dir. Ich weiß mehr, als mir lieb ist. Du hast es mir einfach so erzählt. Alles. Schon als ich noch ein Kind war. Gefragt habe ich dich nicht danach, es ging von dir aus.«
»Manche Dinge sind einfach nichts für fremde Ohren. Die erzähle ich nur dir. Ich wüsste nicht, wem ich es sonst erzählen soll. Aber nicht einmal du weißt alles von mir. Es gibt noch ein, vielleicht zwei Sachen, die erzähle ich dir irgendwann einmal. Bevor ich sterbe. Oder ich schreibe dir einen Brief, den kannst du dann lesen, wenn ich tot bin.«
Ich muss schmunzeln, hörbar, damit meine Mutter am anderen Ende der Leitung mitbekommt, wie wenig ernst ich ihre Worte nehme.
»So schlimm? Hast du jemanden umgebracht?«
»Du hörst mir wieder einmal nicht zu. Ich habe doch gerade gesagt, du wirst es noch erfahren. Aber nicht jetzt. Auch nicht morgen oder in einer Woche.«
Sie meint es wirklich ernst. Es überrascht mich, dass meine Mutter noch ein Geheimnis vor mir hat, vielleicht sogar zwei. Ich dachte, ich wüsste alles über sie, war fest davon überzeugt, dass ihr Mitteilungsbedürfnis, ja die Sucht, über sich selbst zu sprechen, mächtiger ist als anderes: Scham, Zweifel oder die Sorge, ihr Gegenüber mit der Sachlage ihres Lebens zu überfordern. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in diesem Fall nicht mit dem Schrecklichen kokettiert, sondern dass es sich tatsächlich um etwas Schreckliches handelt, ist groß. Ich versuche mir vorzustellen, worum es sich handeln könnte. Vielleicht hat sich ja mein Großvater einmal an ihr vergangen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dies würde dem Unglück, das ihr im Zusammenhang mit Männern widerfuhr, ein Gesicht geben wie auf einem Steckbrief. Je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher, ja geradezu abwegig erscheint mir diese Möglichkeit. Dass ich als Erstes daran gedacht habe, ist eindeutig weniger dem Verhältnis meiner Mutter zu ihrem Vater geschuldet als der Obsession, mit der die Gesellschaft heutzutage diesem Verbrechen gegenübersteht.
Ich stelle mein Gedankenkarussell wieder ab. Nicht, dass es mich nicht interessiert, was meine Mutter vor mir verheimlicht, im
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