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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Gegenteil. Ich kenne sie jedoch gut genug, um zu wissen, dass sie es mir zwar nicht jetzt, auch nicht morgen oder in einer Woche erzählen wird. Dass ich jedoch nicht bis zu ihrem Tod werde warten müssen, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Jetzt, da sie einen Fehler begangen und mir gegenüber eine erste Andeutung gemacht hat, ist eine Hemmschwelle überwunden, und ich weiß, dass es sie nun von Woche zu Woche, von Monat zu Monat immer mehr dazu drängen wird, mir ihr Geheimnis zu erzählen, so lange, bis es ihr immer öfter auf der Zunge liegt, sie irgendwann nicht mehr an sich halten kann und sich mir anvertrauen will, ja muss, will sie nicht förmlich daran ersticken.
    »Ich finde es ja erstaunlich, dass du die Zeit hast, nach Berlin zu fahren. Ich dachte, wir waren uns darüber einig, dass du dir endlich einen neuen Job suchst?«
    Ich arbeite im Augenblick in der Pressestelle der Architektenkammer und bin verantwortlich für den Public-Relations-Bereich. Eine Kammer muss sich – anders als ein Dienstleistungsunternehmen wie die Post – nicht wirklich legitimieren, an ihrer Daseinsberechtigung wird nicht gerüttelt, besser noch: Man nimmt sie so gut wie nicht wahr. Sie ist ein ausgesprochen diskreter Teil jener Bürokratie, die abzubauen zu den Lippenbekenntnissen jeder gewählten Regierung gehört, nicht anders als Steuersenkungen oder Pensionserhöhungen. Ich besetze keine volle Stelle, nur eine halbe, und habe mit dem Verfertigen von Broschüren, dem Organisieren von Tagungen und dem Drehen von kleinen Filmen zu tun, neuerdings auch mit der Betreuung der Homepage. Es geht dabei weniger um etwaige Gesetzesänderungen im Bau- und Vergaberecht, sondern um die Selbstdarstellung der Kammer nach außen sowie um diverse Vergünstigungen, die den Kammermitgliedern zugutekommen. Ich stelle dabei gleichsam das Bindeglied zwischen dem jeweiligen Unternehmen und dem einzelnen Kammermitglied dar, indem ich das Unternehmen in einem günstigen Licht darstelle und die Vergünstigung, die es anzubieten hat, an den Mann bringe. Zuletzt handelte es sich dabei um ein Angebot der Mineralölfirma Shell, die – warum auch immer – den Kammermitgliedern einen Rabatt von 2,4 Cent inklusive Mehrwertsteuer je Liter Treibstoff an allen Shell-Tankstellen gewährt.
    Die Chance, dass aus meiner halben Stelle einmal eine ganze wird, ist gering – noch dazu, wo in den nächsten Jahren eher der Abbau von Stellen zur Diskussion steht. Auch bin ich kein Mitglied einer Partei – was in diesen Zeiten zwar nicht mehr unerlässlich ist, dennoch keinesfalls schaden kann, will man vorankommen. Nichtsdestoweniger bietet die Anstellung bei einer Kammer Vorteile, mit denen man nicht gerechnet hat. So stellte es plötzlich kein Problem mehr dar, den Belastungsrahmen meines Kontos zu erhöhen oder einen – wenn auch nicht allzu hohen – Kredit bei einer Bank zu bekommen, die – wie sollte es anders sein – in einem gewissen Naheverhältnis zur Kammer steht. Obwohl ich an der Universität am Schluss mehr verdient habe als jetzt, war eine Erhöhung meines Dispo-Kreditrahmens für meine Bank damals kein Thema.
    Der geringe Lohn und die fehlende Zukunftsperspektive lassen mich nach einer neuen Stelle suchen, einer Stelle, die – wie meine Mutter findet – meinen Fähigkeiten mehr entspricht als der Pipifax – wie sie es nennt –, mit dem ich derzeit beschäftigt bin. Wozu das Studium, meint sie, wenn ich mich schließlich mit einem Beruf bescheide, für den man garantiert keinen Magistertitel braucht.
    Im Augenblick betreibe ich die Suche noch halbherzig, was sie schier zur Verzweiflung bringt – zumindest spielt sie mir gegenüber mit einigem Geschick die Verzweifelte, gleich, ob am Telefon oder von Angesicht zu Angesicht.
    »Du solltest dich um deine Zukunft kümmern. Die Arbeit liegt heute nicht mehr auf der Straße wie noch zu meiner Zeit. Heute muss man froh sein, wenn man Arbeit hat. Ich verstehe ja bis heute nicht, warum du deine schöne Stelle an der Universität hingeschmissen hast. Andere würden sich die Finger nach so einer Stelle ablecken.«
    »Der Unibetrieb ist nichts für mich.«
    »Und das ist dir erst nach ein paar Jahren klargeworden?«
    »Nein. Gespürt habe ich das lange vorher. Ich hab mich aber nicht getraut, diesem Gefühl nachzugeben, aus Angst, was dann aus mir wird.«
    »Zu Recht. Außerdem: Was soll das heißen – Gefühl? Gefühle kannst du von mir aus mit irgendwelchen Mädchen ausleben. Aber im Berufsleben haben

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