Das fuenfunddreißigste Jahr
gingen neben ihm her, während er den Trolley hinter sich herzog. Der Bahnsteig leerte sich, ich war stehen geblieben und drehte meinen Kopf mal nach links, mal nach rechts. Ich entdeckte eine Frau, die dasselbe tat. Sie war um die dreißig, knapp eins siebzig groß, sehr schlank, hatte braune Haare und war mit einem langen roten Mantel bekleidet, unter dem sie – wie ich später sah – trotz der Kälte einen karierten Minirock und eine dicke Strumpfhose trug. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Vater oder mit mir. Ich blieb stehen, sie kam langsam auf mich zu. Als sie vor mir stand, erkannte ich, dass wir doch eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Wir hatten dieselben blauen Augen, mit deren Unterstützung mein Vater wahrscheinlich schon unsere Mütter für sich eingenommen hatte.
»Abgesehen von den Augen, siehst du mir überhaupt nicht ähnlich«, sagte ich.
»Kein Wunder. Ich komme ja ganz nach meiner Mutter.«
»Aber dann gibt es ja gar keine Familienähnlichkeit, mittels derer wir uns hätten erkennen können.«
Isa sah spitzbübisch und doch ernst drein. »Nein. Aber als du mir erzählt hast, dass du ihm so ähnlich siehst, habe ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, dir auf dem Bahnsteig zum ersten Mal zu begegnen – und ihm auch, so, wie er früher ausgesehen hat. Also zugleich auf meinen Halbbruder zu treffen und meinen Vater.«
Die Kälte war starr und unbeweglich, der Atem schien, kaum dass er die Mundhöhle verließ, in der Luft zu gefrieren und Eiskristalle auszubilden. Der Bahnhof glich einem riesigen Gefrierfach – mit dem Unterschied, dass das Fleisch im Gefrierfach tot und verarbeitet war, während es sich hier rasch davonmachte, um sich keine Frostbeulen zu holen. Nur meine Halbschwester und ich befanden uns noch auf dem Bahnsteig. Als sie mein Gesicht mit Augen, die mir täglich im Spiegel entgegenblickten, eindringlich musterte, hätte ich nicht sagen können, ob mir dabei wärmer wurde oder noch kälter.
»Und?«, fragte ich.
»Jetzt weiß ich, wie er ausgesehen haben muss, als er meiner Mutter begegnet ist.«
»Ist das unbedingt ein Vorteil? Fühlt es sich für dich besser an als vorher?«
»Weiß ich jetzt noch nicht. Vielleicht bereue ich es ja, wenn er mir ab jetzt im Traum erscheint.« Sie zog eine Augenbraue hoch und zuckte mit den Schultern. »War nur so eine Idee«, sagte sie.
»Du meinst, wenn ich dir ab jetzt im Traum erscheine?«
»Stimmt. Du bist ja nicht er.«
»Aber hallo. Darauf lege ich Wert.«
»Du bist sicher viel netter.«
»Ich hoffe doch. Aber das ist nicht besonders schwer.«
»Ja? Ich glaube, ich will die ganzen Geschichten über ihn gar nicht hören. Was du mir bisher erzählt hast, reicht mir.«
»Auch gut. Worüber sprechen wir dann?«
»Da wird uns schon was einfallen«, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Wofür ist der denn?«
»Weil du so lieb mitgespielt hast bei meiner Idee. Hättest ja auch nein sagen können.«
»Hab ich ja. Ursprünglich.«
Sie hakte sich ein. »Mir ist saukalt. Hauen wir ab von hier.«
»Gern.«
Isa wohnt in einer jener Altbauwohnungen – hohe Decken, geschliffene Dielen, Stuck, alte Fenster und Türen –, die in Berlin gerade einmal so viel kosten wie meine hinsichtlich Anlage und Wohngegend charakterlose Neubauwohnung am Rande eines Industriegebiets. Ihre Wohnung hat zwei Zimmer, dazu eine Wohnküche, die eher eine Art zweites Wohnzimmer ist, da in ihr nicht nur gekocht und gegessen wird. Sie hat die Wände eigenhändig in einem warmen, olivfarbenen Ton gestrichen, an manchen Stellen schimmert die Farbe darunter mal mehr, mal weniger durch. Ein Sofa, Bücher, Magazine, CD-Player und Pflanzen laden dazu ein, sich über die Nahrungsaufnahme hinaus darin aufzuhalten – ein Angebot, dem ich gerne nachkomme. In dem Moment, da ich es sehe, weiß ich, dass das Sofa jener Platz ist, an dem sich Isa am liebsten aufhält, und mache mich umgehend auf ihm breit, was sie zum Lachen bringt. Sie hat mich in ein italienisches Restaurant geführt, liebt nach eigener Aussage überhaupt alles, was mit Italien zu tun hat, und bietet mir dementsprechend Averna und Grappa an.
Vom Sofa aus folge ich ihren Bewegungen. Wie sie den dunkelbraunen Averna in zwei Gläser füllt, eine gelbe Zitrone schneidet, Eiswürfel aus einer elastischen, pinkfarbenen Folie in die Gläser drückt, schließlich die halbierten Zitronenscheiben dazugibt. Das Seltsame ist: Ich sehe sie, und sehe sie doch nicht. Wie ihre Hüften beim Schneiden
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