Das fuenfunddreißigste Jahr
anderen werden wenig später in einen einsteigen. Die Cafeteria ist das Gegenteil von einem Kaffeehaus, das man um seiner selbst willen aufsucht. Sie ist ein Imbissbetrieb, in dem es niemandem schnell genug gehen kann, gleichgültig, ob er ankommt oder abfährt. Heute geht alles ruhiger und langsamer vonstatten, das Hoch, das die Kälte aus Russland nach Mitteleuropa bringt, sorgt dafür, dass die Menschen erst einmal durchatmen, innehalten, und nicht in Gedanken schon zum Bahnsteig hetzen, wo sie wieder jener Frost erwartet, dem sie gerade für einige Minuten entkommen sind. Erst wenn die Hauptsache – die Befriedigung der Grundbedürfnisse – gesichert ist, beginnt man sich für Nebensächliches zu interessieren, bald darauf darüber zu ärgern. Eine Ungehaltenheit macht sich breit, eine Nervosität, die zum täglichen Betrieb einer Gesellschaft gehört und die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Haar in der Suppe nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden. Wenn das vermeintlich Selbstverständliche – der Schutz vor Kälte etwa – plötzlich etwas Kostbares darstellt, verschwindet diese Ungehaltenheit und man erfreut sich beinah demütig an der Wärme, die in einem Bahnhofscafé herrscht. Schade nur, dass die Erinnerung daran nur allzu schnell verblasst und man seine Zeit bald wieder damit verbringt, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen.
Als mir diese Gedanken beim Anblick der Menschen in der Cafeteria einfallen, muss ich über mich selbst lachen. Selbst wenn sie einen Sinn ergeben würden: Wer würde mir schon den Propheten des einfachen Lebens abnehmen? Nicht einmal ich selbst – zumindest nicht in so schlichtem, moralisch einwandfreiem Gewand.
Die leicht getönten Scheiben des Zuges verstärken den Eindruck, man habe sich mitten in der Nacht auf die Reise gemacht. Ich bin nicht der Einzige, der diesem Umstand Rechnung trägt, indem er die Augen schließt und seinen Kopf gegen das Fenster lehnt, um wieder in den Schlaf zu sinken, der mit dem frühen Aufbruch zwar freiwillig, nichtsdestoweniger gewaltsam unterbrochen worden ist. Die Frau, die neben mir sitzt, macht mir einen Strich durch die Rechnung, indem sie sich einen Kaffee kauft, der von einer Bedienung auf einem Tablett gereicht wird, obwohl wir uns in einem Wagen zweiter, nicht erster Klasse befinden. Andere tun es ihr gleich. Kaffeeduft steigt mir in die Nase, bedrängt mich, dem hereinbrechenden Tag ins Auge zu sehen. Für einen Augenblick sieht es danach aus, als hätte ich diesem Appell auf Dauer nichts entgegenzusetzen, in Gedanken sehe ich mich bereits selbst einen Kaffee bestellen. Aber meine Müdigkeit ist größer als die Wirkung des Kaffeedufts, und ich sinke, nein, taumle förmlich in einen ohnmächtigen Schlaf, aus dem ich eineinhalb Stunden später derart benommen erwache, dass ich mich umgehend daranmache, weiterzuschlafen, was mir leider nicht gelingen will, sodass ich mich schließlich damit abfinde, wach zu sein.
Eine andere Frau sitzt inzwischen neben mir, weder habe ich mitbekommen, wie die eine aufgestanden ist, noch, wie die andere sich hingesetzt hat. Normalerweise habe ich einen hellhörigen Schlaf, was dazu führt, dass sich in meinem Kulturbeutel immer ein frisches Paar Oropax befindet. Diesmal jedoch war es um mich herum dunkel geworden, als hätte man mir plötzlich einen Sack über den Kopf gezogen.
Kurze Zeit später bin ich es, der sich nach dem Aufwachen einen Kaffee bestellt, während die Frau neben mir zu schlafen versucht. Dass sie es nicht tut, obwohl sie die Augen geschlossen hat, schließe ich daraus, dass sie nervös auf ihrem Sitz hin und her wetzt und nach einer bequemen Haltung sucht. Sie hat dunkelblonde Haare, ich schätze ihr Alter auf Ende dreißig, Anfang vierzig. Als ihr Atem schließlich schwerer und gleichmäßiger wird, hat sie mir den Rücken zugewandt, kauert in seitlicher Haltung zwischen den Lehnen ihres Sitzes und hat dabei die Beine angewinkelt, sodass es ein wenig an die Haltung eines Embryos erinnert.
Der Zug durchquert eine Winterlandschaft. Der Neuschnee, der über Nacht reichlich gefallen ist, wirkt wie eine Lichtquelle, alles ist in ein phosphoreszierendes Weiß getaucht: Bäume, Äcker, Wiesen, Vorgärten, Straßenränder, Fußballfelder, Dächer, Kirchtürme, Bergkuppen. Den getönten Scheiben des Zuges ist es zu verdanken, dass das Auge nicht geblendet wird von der über alle Unebenheiten und allen Schmutz hinwegfegenden Leuchtkraft des Schnees.
Die Fahrt nach Berlin, die
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