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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Male dazu aufrufen wird, endlich an ihrem Schalter einzuchecken.
    Als wir nach dem Rachmaninov beisammensaßen, fragte sie mich, ob ich einen Joint mit ihr rauchen wolle. Ich lehnte ab, da ich auch in diesem Fall nicht mehr in alte Gewohnheiten verfallen wollte.

 
     
    Doch je mehr ich mit mir umgehe und mich kennenlerne, desto mehr verwundert mich meine Ungestalt.
    Montaigne, Essais III , xi

Ernüchtert
    Dieses Blau! Meerblau. Himmelblau. Und dieses Rot! Das erhitzte Gesicht eines Sufis, der sich in Trance tanzte. Es schien, als bestünde die Welt aus den Flügeln eines Engels, die im Spektrum des Regenbogens schimmerten.
    Steffen bastelte noch nicht einmal an seiner zweiten Tüte, da gab er schon wieder das Hohelied vom Kiffen zum Besten. Kiffen war sein Leben. Er konsumierte das Zeug nicht nur, er widmete sich ihm mit Inbrunst. Er wusste über alles Bescheid: Geschichte, Neurochemie, Anbaugebiete, Gesetzeslage. Wenn er den Stoff in der Hand wog, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zerbröselte und daran roch, hielt man es für möglich, dass er wusste, in welchem kaukasischen Tal die Pflanzen gewachsen waren. Dass er die Ware, die er anzubieten hatte, nicht einfach verkaufte, sondern sich mit ihr identifizierte, machte ihn mir unerträglich. Es genügte ihm nicht, dass man sich nach dem fünften, sechsten Zug zu entspannen begann. Sich mit der Zeit fühlte wie eine Frucht, reif und saftig. Dass alles Problematische für kurze Zeit aufgehoben war in einem dümmlichen Grinsen. Steffen war erst zufrieden, wenn man mit ähnlicher Euphorie zu Werke ging wie er. Die meisten taten ihm den Gefallen, weil er den Stoff für sie ranschaffte und sich dabei großzügig zeigte, indem er ihn deutlich unter Wert verkaufte. Man hätte ihm nicht nachsagen können, dass er sich an seinen Freunden bereichern wollte. Reich wurde er so nicht – zumindest nicht mit uns.
    Dass ich nicht nur Steffens Übertreibungen, sondern dem Kiffen an sich distanziert gegenüberstand, lag vielleicht einzig daran, dass das Zeug bei mir einfach nicht wirkte. Ich konnte so viele Züge nehmen, wie ich wollte: Weder wälzte ich mich irgendwann vor Lachen, noch verfiel ich in einen Sexrausch. Im Grunde war ich in Steffens Runde schon immer fehl am Platz.
    Steffens Worte waren ausladend, seine Gesten jedoch sparsam. Er suchte seinen Bildern dadurch Nachdruck zu verleihen, indem er mild lächelte und für uns im Wohnzimmer bedächtig Sitzkissen am Boden verteilte. Ich sah ihm bei seinem kleinen Zeremoniell zu. Wie er ein Kissen nach dem anderen an seinen Ort beförderte, der – dem Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen – kein zufälliger, sondern ein ganz bestimmter war: als entließe er mit jedem Kissen ein gefangenes Tier wieder in die Freiheit.
    Steffens kahler, von einem sechswöchigen Indienaufenthalt braungebrannter Kopf war wie aus Holz: geschnitzt, geschliffen, geölt. Seine Augen waren hellbraun mit einem Stich ins Grüne. Er suchte Blickkontakt herzustellen zu den Menschen um ihn herum. Gelassenheit war in seinem Fall eine Spielart von Kontrolle. Gleich, ob er sich mit jemandem langweilte oder wütend war: Es dauerte lange, bis er sich aus der Reserve locken ließ und seinem Unbehagen Ausdruck verlieh.
    Er wandte mir den Kopf zu und nickte. Es war nicht zu erahnen, ob sein Nicken mir galt oder Ausdruck seiner Zufriedenheit mit der Welt war – es war mir auch egal.
    »Diesmal wirst du dein blaues Wunder erleben«, sagte er, kam auf mich zu und legte seinen rechten Arm um mich. »Heute habe ich ein Kraut dabei, das wird dich so richtig auf Touren bringen.«
    »Noch lachst du«, fügte er hinzu, »aber wart’s ab.«
    Es war noch nicht lange her, da war Steffens Wohnung nichts als ein Behälter gewesen, in dem verschiedene Lebensformen ihr Auskommen suchten. Fliegen. Spinnen. Motten. Hin und wieder eine Maus, die sich über ein Loch in der Wand unter Steffens Spüle in seine Küche verirrte. Schließlich Steffen selbst, der inmitten seiner Landschaft aus alten Matratzen, einem Tisch und ein paar Stühlen ein Leben führte, das sich auf den ersten Blick kaum von dem seiner tierischen Mitbewohner unterschied. Der Geruch von verbranntem Tabak lag in der Luft, ein kalter Nebel, der die Augen reizte und das Licht in der Wohnung trübte. Einen Hinweis darauf, dass sich das Menschsein um mehr drehte als um Nahrungsaufnahme, Schlaf und gelegentliche Kopulation, gab neben Zigaretten, herumliegenden Taschenbüchern und Bierflaschen Steffens

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