Das fuenfunddreißigste Jahr
Plattenspieler, dessen zahlreiche Flecken und Schrammen dem Umstand Rechnung trugen, dass er neben seinen Schallplatten das einzige war, an dem sein Herz hing. Seit er von zuhause ausgezogen war, war seine Plattensammlung, die er in Secondhandläden zusammengekauft hatte, auf über tausend Exemplare angewachsen.
So hatte ich ihn kennengelernt: ein – abgesehen von den wie automatisch erfolgenden Bewegungen des Zigarettenanzündens, Flaschenöffnens und Plattenumdrehens – über Stunden nahezu unbewegliches, menschliches Element inmitten eines Stilllebens aus Klang und Rauch. Gleichzeitig war mir bereits an diesem ersten Tag das Gegensätzliche unserer Temperamente aufgefallen. Während er mit der Welt und seinem Platz in ihr mehr oder weniger zufrieden war, wurde ich davon angetrieben, in ihr voranzukommen, etwas aus mir zu machen (wenn auch nicht das, was sich meine Mutter von mir erhoffte). Um es in seinen Worten auszudrücken: »Alles easy! No problem!« Er badete förmlich in Offensichtlichkeit – worum es im Leben ging, worüber nachzudenken sich lohnte und worüber nicht. Ein Narr, wer darüber unnötig Worte verlor, anstatt es sich so behaglich wie möglich zu machen. Eine Einstellung, die mir angesichts von Steffens abgewetzter Kleidung, den durchgelegenen Matratzen und den Urinflecken auf seiner Unterhose aberwitzig vorkam.
Meine Sehnsüchte zielten auf die Zukunft. Ich sprach – ob laut oder in Gedanken – ständig vor mich hin. Ich war ein Popstar und gab Interviews; ein Schauspieler in einem Film; ein Philosoph oder ein Politiker, der eine aufsehenerregende Grundsatzrede hielt.
Das Einzige in seiner Wohnung, das noch an jene Zeit erinnerte, waren die alten Platten und der Plattenspieler, auch wenn Steffen sich längst eine neue Anlage gekauft hatte. Jetzt gab es ein großes Sofa mit einem granatroten Samtbezug, dessen vorzeitiger Abnutzung mithilfe eines Überwurfs aus Marokko begegnet wurde, der mit Ornamenten und fingernagelgroßen Spiegeln verziert war. Jedes Zimmer war in einer anderen Farbe ausgemalt: Currygelb, Mintgrün, Terrakotta. Duftöle und Räucherstäbchen betäubten den Geruchssinn auf schmeichlerische Weise. Die Bücher stapelten sich in Regalen und erzählten von Buddha und dem Tao-Te-King. In einer Ecke lehnte ein Didgeridoo. Sogar die Kloschüssel war ausgetauscht worden.
Steffen selbst hatte sich eigentlich nicht verändert: Er hatte lediglich entdeckt, dass die Welt auch bunt und wohlriechend war, ein sauberes Bad und WC die Frauen länger bei ihm ausharren ließ, und es sich auf einem Bett mit Kaltschaummatratze besser schlief als auf dem Boden. Sonst war alles beim Alten geblieben: »Alles easy! No problem!« Die größte Veränderung war, dass das Kiffen, dem er früher gelegentlich gefrönt hatte, inzwischen der Mittelpunkt seines Lebens war und es finanzierte.
Ich folgte ihm in die Küche. Alex und Carsten hatten es sich inzwischen dort gemütlich gemacht und tranken Bier. Ich konnte mich an keine Gelegenheit erinnern, bei der die beiden sich nicht rechtzeitig in unmittelbarer Nähe zum Essen und zu den gekühlten Getränken festsetzten, bevor andere es taten.
Alex köpfte zwei Flaschen Bier mit dem Feuerzeug. Carsten trank sein Bier aus dem Glas. Seine Frau, Heike – eine angehende Personalberaterin mit einem energischen Kinn –, sah es nicht gern, wenn er aus der Flasche trank. Im Grunde mochte sie nichts, was mit seiner jüngeren Vergangenheit zu tun hatte – am wenigsten seine Freunde. »Irgendwann wird es Zeit, erwachsen zu werden«, meinte sie, was eine Aufforderung an uns alle darstellte, die alten Bande zu kappen. Im Laufe eines Abends hatte sie Alex einmal unverhohlen als Loser bezeichnet, was Alex dazu trieb, sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank in der von Heikes Vater bezahlten Einbauküche zu holen, »I’m a loser, yeah« zu rufen und ruckartig einen Zug aus der Flasche zu nehmen, sodass Schaum aufspritzte und sich auf dem Boden verteilte. Steffen nannte sie einen »Kleinkriminellen«, wegen dem wir alle noch einmal »Bekanntschaft mit der Polizei« machen würden. Was mich betraf, so hatte mich Carsten, den ich gerade wegen seiner Scheu am meisten von allen gemocht hatte, an jenem Abend gebeten, nicht mehr spontan bei ihm vorbeizuschauen, sondern meinen Besuch vorher anzukündigen. Er begründete es mit seinem Stress – er war der neue Junior einer alteingesessenen Anwaltskanzlei. In Wahrheit wollte seine Frau nur genug Zeit haben, um mir aus dem
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