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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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eigenes Altern umso deutlicher spüren lässt.
    Wir haben uns E-Mails geschrieben, einmal miteinander telefoniert, seit meiner Ankunft in Berlin ein paar Stunden miteinander verbracht. Dennoch könnte ich nicht sagen, wie viel oder wie wenig ich – gemessen daran – schon von Isa weiß. Ein großer Unterschied zwischen uns ist, dass sie von dem Augenblick an, da sie als Baby die Welt staunend, saugend und schreiend in Besitz zu nehmen begann, bis heute eine – wie mir scheint – beinahe lückenlose Strecke glücklicher Erinnerungen aneinanderreihen kann, die mit ihrer Familie zu tun haben – eine Kette, in der kein Glied fehlt. Während es in meinem Fall nur die früheste Kindheit auf dem Bauernhof meiner Großeltern gibt – eine Lichtquelle, die mir lange Orientierung und Wärme schenkte. Mein Großvater war ein in sich gekehrter Mann, der zwei Jahre in russischer Gefangenschaft verbracht hatte – eine Zeit, über die er nie sprach. Er sagte überhaupt recht wenig, gab nicht einmal einen Laut von sich, wenn er mit dem Hammer nicht den Nagel, sondern seinen Finger traf. Irgendwann wandte er sich von der Bewirtschaftung des Hofes ab und ganz dem Alkohol zu, sodass er jede freie Minute im Wald oder im Gasthaus zubrachte, was dazu führte, dass ich alle Liebe und Fürsorge meiner Großmutter abbekam. Ich war bis zu einem gewissen Grad ihr Lebenssinn, was – je älter ich wurde – dieser Zuneigung auch etwas Bedrückendes gab. Im Alter von sechs Jahren kam ich zu meiner Mutter, sie hatte sich inzwischen in der Stadt eine Existenz aufgebaut. Ich war bei ihr, lebte jedoch nicht bei ihr, da sie mich bei einer Pflegemutter unterbrachte, die mehrere Pflegekinder halb- oder ganztags betreute. Wir schliefen in Stockbetten, an die uns die Pflegemutter festband wie Haustiere, wenn ihr aus irgendeinem Grund die Nerven durchgingen. Sie steckte uns Süßigkeiten zu, auch wenn die Eltern es verboten, und zwang uns zum Aufessen, bis wir uns übergeben mussten. In dieser Zeit war der Riss, der dadurch entstanden war, dass meine Mutter mich zurückgelassen hatte, so groß geworden, dass er nicht mehr ganz zu kitten war. Alles darauf folgende Unglück, alle Missverständnisse zwischen uns waren nur Folge und Konsequenz davon. Heute könnte ich mir meine Mutter als Darstellerin in einer Doku-Soap über Mädchen vorstellen, die zu früh ein Kind bekommen haben und damit hoffnungslos überfordert sind. Das Wissen um das Leben meiner Mutter, das Wissen darum, dass Verletzungen von der Art, wie sie sie erfahren hat – verbunden mit der Scham, sich helfen zu lassen –, meist die Verletzung anderer nach sich ziehen, besänftigt meinen Zorn, relativiert mein eigenes Unglück, macht es jedoch nicht ungeschehen.
    Während mir diese Gedanken kommen und der Schlaf zu einem Reiseziel wird, das noch Stunden entfernt scheint, stelle ich fest, dass das Nachdenken über mein Leben nichts Wehleidiges mehr hat – ich überhöhe es nicht, suhle mich nicht darin. Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da trug ich einen diesbezüglichen Schmerz mit mir herum wie einen Personalausweis. Aber gut: In seinen Zwanzigern greift man nach allem, das dazu geeignet scheint, die eigene Persönlichkeit auszubilden, ihr einen zwar fiktiven, dennoch stabilen Kern zu verleihen, um den herum sich die Wahrnehmungen und Erfahrungen an- und einordnen sowie die Lebensziele formulieren lassen. Nun bin ich Mitte dreißig, und mir scheint, dass ich in gewisser Hinsicht offener bin, als ich es jemals war, dafür jedoch auch orientierungsloser. Das lässt mich vieles leichter nehmen, macht es mir jedoch schwer, notwendige Entscheidungen zu treffen. Da ich im Augenblick auf der Couch meiner Halbschwester liege, ihre Fotos betrachte und mich seltsamerweise nicht nur für sie, sondern auch für mich freue, kommt es mir so vor, als ob dieser Konflikt vielleicht bald der Vergangenheit angehörte.
    Isa hat sich bis ins Detail erkundigt, was ich zum Frühstück mag. Meinen Vorschlag, brunchen zu gehen, hat sie in dem Moment verworfen, als ich ihn ausgesprochen hatte. Wenn ich in wenigen Stunden meinen Löffel in ein Nussmüsli mit Himbeer- oder Waldbeerjoghurt tauche und die Milchschaumkuppel meines Cappuccinos einen feuchten, weißen Rand über meiner Oberlippe hinterlässt, den ich umgehend mit meiner Zunge ablecke, werden sich Isas Vorlieben und die meinen in einer Weise kreuzen, dass mir die Vergangenheit noch vergangener erscheinen und mich die Gegenwart zum wiederholten

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