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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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Weg zu gehen oder ihm meinen Besuch auszureden. Als ich später eintraf, machte sie aus ihrem Herzen auch mir gegenüber keine Mördergrube: In ihren Augen war ich schlimmer noch als ein Verlierer oder ein Krimineller – ich war »arrogant« und hielt mich »für etwas Besseres«, obwohl »alle Anzeichen« dafür sprachen, dass »nichts Gescheites« aus mir werden würde. Es kam darüber jedoch nicht zum Streit, da mir ihre Meinung schlicht gleichgültig war. Heike betrachtete die Dinge mit einem Tunnelblick und achtete darauf, auf ihrem vermeintlichen Weg nach oben nicht nach links oder rechts zu schauen, was nicht wirklich förderlich für das Urteilsvermögen ist.
    Carsten hatte in solchen Momenten immer ein betretenes Gesicht gemacht und zu allem geschwiegen. Wir hatten auch nicht damit gerechnet, dass er uns in Schutz nahm und seiner Frau Einhalt gebot – noch dazu, wo ihre Vorhaltungen im Ansatz sogar einen Funken Wahrheit enthielten.
    Im Gegensatz zu uns hatte Carsten seinen Stil nie verändert. Er hatte immer noch denselben Kurzhaarschnitt und denselben freundlichen, offenen Blick, der jedoch leicht zu flackern begann, wenn man ihm zu lange in die Augen sah. Immer noch steckte sein Körper in jenen gestreiften Hemden und blauen Sweatshirts von Fred Perry und Ralph Lauren, die er schon als Jugendlicher getragen hatte – mit dem Unterschied, dass sie damals von seiner Mutter, heute von seiner Frau gekauft wurden. In gewisser Hinsicht konnte ich ihn verstehen. Er tat sich schon immer mit allem leicht, war jedoch verträumt und ließ sich leicht ablenken. Obwohl er nun ein abgeschlossenes Studium, eine feste Anstellung und eine in zwanzig Jahren abbezahlte Eigentumswohnung hatte, wusste er im Grunde immer noch nicht, was er wollte und was ihm guttat. Heike gab seinem Leben eine Richtung und beantwortete seine offenen Fragen. Problematisch wurde diese Konstruktion erst, wenn er selbst irgendwann andere Antworten fand.
    Für Alex war es unbegreiflich, was Carsten an Heike fand. Dass er sie nicht nur gefickt – »wir haben ja alle schon danebengegriffen« –, sondern gleich geheiratet hatte, setzte ihn in seinen Augen herab und machte ihn endgültig zu jenem Würstchen, das er in ihm immer gesehen hatte. Ich sah das Funkeln in seinen Augen und den Hohn, der seinem Grinsen wie Unkraut entspross, wann immer von Carsten die Rede war, erst recht, wenn er ihm gegenübersaß. Carstens Brille, sein gescheiteltes Haar, sein gebügeltes Hemd, die Art, wie er seinen Ehering auf seinem Finger hin und her drehte: In Alex’ Augen war Carsten eine menschliche Dartscheibe, auf die er die Pfeile seiner Blicke und spitzen Bemerkungen warf.
    An Alex war nichts gescheitelt oder gebügelt. Er hatte das Studium abgebrochen und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Er trug sein ausgedünntes schwarzes Haar als Einziger von uns immer noch lang. Er hatte einen blassen Teint. Da er ein Nachtmensch war, verdankten sich die gelegentlichen braunen Flecken an seinem Körper nicht der Sonne, sondern dem Kaffee.
    Er war immer unser Mann fürs Grobe gewesen, derjenige mit den übelsten Blondinenwitzen und dem langgezogenen Dielenrülpser auf dem Weg von der Küche zum Klo. Als WG-Trüffelschwein hatte er eine Nase dafür, wo es eine günstige Gelegenheit gab – egal, ob es sich dabei um Bier handelte, Eintrittskarten für ein Konzert oder Mädchen, die sich dermaßen mit Alkohol zuschütteten, dass sie sich leichter abschleppen ließen. Er trug seine Vergangenheit – diese illusionäre Heimstatt unverwüstlicher Jugendlichkeit – wie einen Handspiegel mit sich herum. Wenn er in zehn Jahren einen Blick darauf warf, würde er noch genau so aussehen wie damals, als wir während des Studiums gemeinsam um die Häuser gezogen waren. Sein Haar würde bis dahin grau und sein blasser Teint fahl geworden sein, aber wenn er mit dem Trinken so weitermachte, würde ihm der Unterschied vielleicht nicht weiter auffallen.
    Ulrike verhinderte, dass wir eine reine Herrenrunde abgaben. Zwar hatte sie nie zusammen mit uns in einer WG gewohnt, war jedoch von Anfang an ein fester Bestandteil unserer Partys gewesen und hatte jeden Blödsinn mitgemacht.
    Ihr geringe Körpergröße (162 Zentimeter) verlieh ihr etwas Mädchenhaftes, Unerwachsenes (was sie hasste), und ihre dunklen Augen funkelten teilnahmslos wie Familienschmuck in einer Schatulle, die nur zu besonderen Anlässen geöffnet wurde. Ihr Lächeln vermittelte einem zuerst das Gefühl, dass sie einem

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