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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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– dazu geeignet, mir ein Leben jenseits davon lange unmöglich erscheinen zu lassen. Isa war nicht meine einzige Verwandte, es gab schließlich noch meine Onkel und ihre Kinder, meine Cousins und Cousinen, mit denen ich in Berührung kam, als sich meine Mutter und ihre Brüder eine Zeitlang in den Winterferien zum Skifahren trafen. Meine Cousins, die alle besser Ski fahren konnten als ich, waren nie mehr als irgendwelche Schulfreunde für mich gewesen. Es ist also keine Übertreibung, wenn ich behaupte: Das erste Mal, dass ich spürte, was es bedeutete, eine Familie zu haben, war, als ich Isa Klavier spielen sah. Sicher, bei meinen Großeltern hatte ich mich geborgen gefühlt – aber ich hatte doch nie ganz zu ihnen gehört, war ihnen und ihrem Leben nur so lange geliehen, bis meine Mutter mich ihnen wegnahm. Auch das ist etwas, das Isa zu etwas ganz Besonderem für mich macht: dass sie meine erste und einzige Verwandte ist, die mit meiner Mutter nichts zu tun hat.
    »Du musst nicht gleich in Begeisterung ausbrechen.«
    Isa versucht, mir meine Befangenheit zu nehmen. Ob sie spürt, woher sie kommt? Ich habe ihr bei weitem nicht alles über mich erzählt und über die Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin. Aber doch genug, dass sie vielleicht etwas von meiner Fremdheit allem gegenüber spürt, das mit Familie zu tun hat. Sie sieht mich mit ihren blauen Augen, die auch die meinen sind, an, und ich fühle mich stillschweigend, und ohne es genauer wissen zu wollen, von ihr verstanden. Vielleicht ist das ja die Essenz von Familie, der Klebstoff, der alles zusammenhält: nicht etwa der genetische Code, sondern die kollektive Halluzination, sich auf eine fraglose Weise vom anderen anerkannt und akzeptiert zu fühlen. Alle großen und kleinen Familientragödien ergeben sich dann daraus, wenn diese Halluzination mit der Wirklichkeit in Berührung kommt.
    Isa steht auf, kommt zu mir herüber.
    »War es so schlecht, oder so gut, dass du den Mund nicht mehr aufkriegst?«
    Sie setzt sich neben mich und lächelt mich an. Unsere Knie berühren sich und ich weiß, dass ihre Frage nicht ernst gemeint ist und dass ihr klar ist, dass mein Schweigen nichts mit ihrer Qualität als Pianistin zu tun hat. Das Lächeln meiner Halbschwester betäubt mich, es ist ein freigiebiges Lächeln, wie es unsere Familie bisher nicht gekannt hat, wenn man einmal vom Lachen meiner Großmutter absieht, die eine großherzige Frau war, die sich nicht nur darüber freute, wenn es ihr, sondern auch, wenn es den anderen gut ging.
    »Na, schlecht kann man nicht sagen, es war schon gut, im Großen und Ganzen, wenn man natürlich auch sagen muss …«
    »Du Arsch.«
    »Nun kennst du auch diese Seite von mir.«
    Isa boxt mich, sie schlägt nicht nur andeutungsweise, sondern mit einem gewissen Nachdruck, einem nicht geringen Einsatz von Kraft zu, sodass mir die Stelle am Oberarm im ersten Moment tatsächlich ein bisschen wehtut.
    »Aua!«
    »Nun kennst du auch diese Seite von mir.«
    Sie hat es geschafft und mich zum Lachen gebracht – allzu offensichtlicher Sinn und Zweck der Übung. Ich verspüre eine große Lust, sie zu umarmen, aber im Gegensatz zu Isa fehlt mir der Instinkt für den richtigen Zeitpunkt, vielleicht auch die Freigiebigkeit. Zum Glück scheint sie von Beschränkungen dieser Art verschont zu sein, denn sie schlingt ihre Arme um mich und zieht mich zu sich heran, sodass im nächsten Augenblick meine Nase in ihren Locken steckt und ich mich frage, ob ich sie einfach nur fest drücken soll, oder ob es okay ist, sie festzuhalten und gleichzeitig ein wenig ihren Rücken zu streicheln. Diese Zurückhaltung, ja Verschämtheit meinerseits ist mir nicht fremd, trotzdem unangenehm, da sie einfache Dinge unnötig kompliziert macht. Andererseits freue ich mich auch über sie, weil sie immer schon ein Zeichen dafür war, dass sich etwas nicht Alltägliches ereignet, das für mein Leben von Bedeutung sein könnte. Worüber ich mir nicht im Klaren bin, ist, ob Isa das auch für sich macht, ob es ihr ein wirkliches Anliegen ist, oder nur für mich, weil sie spürt, wie unsicher ich bin. Oder ob es einfach ihre Art ist. Egal: Für den Augenblick ist es gut so, wie es ist.
    Isa zieht ihren Kopf zurück, ohne mich jedoch ganz loszulassen, ihre rechte Hand ruht auf meiner linken Schulter.
    »Bist du müde?«
    Auch wenn ihre Frage für mich überraschend kommt – sie hat recht, es ist genug für den ersten Abend. Genug der unter dem Deckmantel einer

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