Das fuenfunddreißigste Jahr
unabwägbaren Vergangenheit mal ausgesprochenen, mal zurückgehaltenen Worte; der wechselnden Blicke und Gesten; der unvorhersehbaren Zeitrisse, in denen man versucht, in das Gegenüber hineinzuleuchten wie in einen Schacht, aus dem man einst selbst hervorgekrochen kam.
»Nein.« Irgendwie möchte ich nicht, dass schon Schluss ist.
»Ich aber.«
Obwohl ich sie im Grunde nicht kenne, bin ich mir sicher, dass Isa lebensklüger ist als ich. Ein Gedanke, bei dem ich lachen muss, da ich mir vorstelle, wie meine Mutter ihn mit den Worten »Da gehört nicht viel dazu« kommentiert. Womit sie nicht unrecht hat: Meine Intelligenz ist sicher höher zu bewerten als meine Lebensklugheit. Meine Klugheit ist nur im Denken forsch und fest, im Handeln ist sie zögerlich und leicht zu erschüttern.
Wenig später liege ich auf der Couch, die mit ein paar Handgriffen in eine Liegefläche verwandelt worden ist, auf der ich bequem Platz habe. Die kleine Welt um mich herum ist eine adäquate Kulisse für das bescheidene Drama einer Familienzusammenführung, das in dieser Wohnung über die Bühne geht. Isa hat die Vorhänge vorgezogen, nur das Fenster, unter dem mein Sofa steht, bietet dem Auge noch unverhüllte Ein- und Ausblicke. Der Mond setzt sich – entgegen der Wettervorhersage – überraschend hell und groß am klaren Nachthimmel in Szene. Er wirft sein Licht nicht nur auf mein Bett, sondern auch auf Isas Bücherregal, in dem sich auch gerahmte Fotos befinden, die ihre Adoptivfamilie zeigen. Kurz lockt mich dieselbe Versuchung, die ich als Kind empfunden habe, wenn ich woanders übernachtet habe als zuhause: aufzustehen, während die anderen schlafen, und mich in der Wohnung umzusehen. Schubladen zu öffnen, Briefe zu lesen, mich über Schokoladen-, später Alkoholbestände herzumachen. Herumzuschnüffeln und in den Besitz von Informationen zu gelangen, die nicht für mich bestimmt sind. Aber die Versuchung verschwindet so rasch, wie sie über mich gekommen ist, und mein Blick bleibt auf Isas Familienfotos hängen. Eines davon zeigt die ganze Familie; ihre Großmutter, ihre Mutter, ihren Vater sowie Isa im Alter von elf, zwölf Jahren. Was daran auffällt, ist, wie die Familie beieinandersteht. Fotografische Gruppierungen dieser Art haben oft etwas Gezwungenes, der Fotograf gibt, bevor er den Auslöser drückt, Platzanweisungen, die den Mitgliedern von Familien oder Sportvereinen das Stigma von Pokalen in einer Vitrine verleiht. Die körperliche Nähe, ja Intimität auf diesem Foto ist offensichtlich keine erzwungene, sondern eine freiwillige. Die fotografierten Personen versuchen nicht wie so oft, bei aller unausweichlichen Nähe Abstand zu wahren, was das Lächeln einfriert, überhaupt den ganzen Körper versteift, ihm etwas Puppenhaftes verleiht. Nein, Isas Familie klebt aneinander. Wirken die Kinder in der Langeweile solcher Arrangements manchmal wie Dekor, ist Isa der unzweifelhafte Mittelpunkt. Obwohl sie nicht das zentralperspektivische Zentrum der Aufnahme darstellt – das ist ihre »Oma«, die in einem Ohrensessel sitzt –, ist sie die Einzige auf dem Bild, die von allen anderen berührt wird, ja die alle anderen unbedingt berühren und festhalten müssen – so kommt es mir zumindest vor. Die Familie eint nicht die willkürliche Gruppierung, sondern ein bewusst geflochtenes Netz von sichtbaren und unsichtbaren Berührungen, die für ihr Selbstverständnis offensichtlich so bedeutend sind, dass sie sie vor den Augen des Betrachters nicht etwa verschleiern, sondern geradezu stolz zur Schau stellen. Ist es verwunderlich, wenn jemand wie ich augenblicklich den Wunsch verspürt, sich in einem solchen Netz zu verfangen?
Ein anderes Foto zeigt sie mit ihrer Mutter etwa fünfzehn Jahre später, als die Großmutter längst tot ist und die Eltern geschieden sind. Der Vater hat noch einmal geheiratet, eine deutlich jüngere Frau. Im Gegensatz zu anderen Scheidungskindern hat Isa ein enges Verhältnis zu ihrem »Papa«, was wohl daher rührt, dass ihre Adoptiveltern lange darum kämpfen mussten, ein Adoptivkind zu bekommen. Ihre Eltern seien auch nicht im Hass auseinandergegangen wie viele andere, sie hätten sich einfach auseinandergelebt, dabei jedoch nie angefangen, schlecht voneinander zu sprechen. Einzig, dass die zweite Frau ihres Exmannes um so vieles jünger ist als sie und beinah ebenso gut seine Tochter sein könnte, würde ihrer »Mama« manchmal bitter aufstoßen, erzählte Isa, wahrscheinlich, weil es sie ihr
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