Das Fulcanelli-Komplott (German Edition)
Schönheit und Kunstfertigkeit der Reliefs bewundern, doch eine Frage blieb: Konnten sie ihm etwas verraten? Würden sie von irgendeinem Nutzen sein bei der Suche nach einem Heilmittel, das einem sterbenden Kind helfen sollte? Das Problem mit dieser Art von Symbologie, sinnierte er, bestand darin, dass man im Prinzip jedes Bild mehr oder weniger so interpretieren konnte, wie man es wollte. Die Darstellung eines Raben war vielleicht nur die Darstellung eines Raben; doch jemand, der nach einer versteckten Bedeutung suchte, konnte diese leicht in das Bildnis hineininterpretieren, selbst wenn es überhaupt nichts zu interpretieren gab. Es war allzu einfach, subjektive Dinge oder Wünsche auf ein jahrhundertealtes Steinrelief zu projizieren, dessen Schöpfer längst nicht mehr lebte und deswegen nicht mehr widersprechen konnte.
Das war der Stoff von Verschwörungstheorien und Kulten um «Geheimes Wissen». Viel zu viele Menschen suchten verzweifelt nach alternativen Versionen der Geschichte, als wären die Fakten vergangener Zeiten unbefriedigend oder nicht unterhaltsam genug. Vielleicht taten sie es nur, um die trübselige Wirklichkeit menschlicher Existenz zu kompensieren und dem eigenen tristen, eintönigen Leben einen Hauch von Faszination zu verschaffen. Ganze Subkulturen wuchsen um diese Mythen herum und schrieben die Geschichte um wie das Drehbuch zu einem Film. Nach allem, was Ben bisher über die Alchemie gelesen hatte, schien es sich lediglich um eine weitere alternative Subkultur zu handeln, die auf der Suche nach Abenteuer und Sensation wie eine Katze ihrem eigenen Schwanz nachjagte.
Er wurde allmählich nervös. Nicht zum ersten Mal bereute er, diesen Job angenommen zu haben. Wären nicht die zweihundertfünfzigtausend von Fairfax auf seinem Bankkonto gewesen, er hätte schwören können, dass jemand ihm einen Streich zu spielen versuchte. Das Vernünftigste wäre noch, zum Flughafen zu fahren, in den ersten Flieger nach England einzusteigen und dem alten Narren sein Geld zurückzugeben.
Nein, er ist kein alter Narr. Er ist ein verzweifelter Mann mit einem sterbenden Enkelkind.
Ruth. Ben kannte den Grund, weshalb er hier stand.
Er setzte sich für ein paar Minuten auf eine Kirchenbank und sammelte seine Gedanken. Um ihn herum befanden sich nur noch vereinzelte Besucher, die zum Beten hergekommen waren. Er schlug Fulcanellis Buch auf, atmete tief durch und dachte über das bisher Gelesene nach.
Die Einführung von The Mysteries of the Cathedrals war von einem Anhänger Fulcanellis verfasst und dem eigentlichen Buchtext später hinzugefügt worden. Dort stand zu lesen, wie Fulcanelli im Jahre 1926 seinem Pariser Jünger verschiedene Dinge anvertraut hatte – niemand schien genau zu wissen, welche –, um sich anschließend sofort in Luft aufzulösen. Seit jenem Moment hatten nach den Worten des Schreibers zahllose Menschen versucht, den Meisteralchemisten wiederzufinden, einschließlich eines großen Geheimdienstes.
Ja, sicher .Es war das Gleiche wie bei den meisten anderen Dingen, die Ben im Verlauf seiner Internet-Recherchen erfahren hatte. Es gab mehrere unterschiedliche Versionen der Fulcanelli-Geschichte, je nachdem, welche weit dahergeholte Webseite man besuchte. Manche behaupteten, Fulcanelli hätte niemals wirklich existiert. Manche schrieben, er wäre eine Kunstgestalt gewesen, zusammengesetzt aus mehreren verschiedenen Personen – ein Strohmann für eine geheime Gesellschaft oder einen Bund mit dem Ziel, das Okkulte zu erforschen. Andere meinten, er habe tatsächlich gelebt. Nach einer Quelle war Fulcanelli in New York gesehen worden, und zwar Jahrzehnte nach seinem Verschwinden. Zu einer Zeit also, als er weit über hundert Jahre alt gewesen sein musste.
Ben nahm nichts von alldem für bare Münze. Keine der Behauptungen war mit Beweisen belegt. Es gab keine Fotografien von Fulcanelli – wie konnte man da der Behauptung trauen, er wäre gesehen worden? Alles in allem war nichts gesichert, und es herrschte große Verwirrung. Es gab nur eines, was all diese Quellen sogenannter Information gemeinsam hatten: Nicht in einer einzigen fand er das geheimnisvolle Fulcanelli-Manuskript erwähnt.
Er entdeckte nichts besonders Erhellendes während seiner Besichtigungstour durch Notre-Dame. Was er allerdings entdeckte – nicht lange nachdem er die Kathedrale betreten hatte –, war der Mann, der ihn verfolgte.
Er stellte sich nicht besonders geschickt dabei an. Er war zu verstohlen, zu
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