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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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stünde schwankend am Rande eines Abgrunds. Ich schloss die Augen und bedeckte das Gesicht mit den Händen, versuchte tief durchzuatmen, während mein Verstand auf der verzweifelten Suche nach einem Halt umherirrte. Nach ein paar Sekunden hatte ich einen gefunden.
    »Sie müssen davon ausgehen?«, fragte ich.
    Ein Missverständnis. Es ist alles bloß ein Missverständnis.
    »Na ja.« Danko schluckte. Erst jetzt fiel mir auf, wie nervös er war. Das ängstigte mich mehr als alles andere, denn er war ein alter Polizist. Ein erfahrener Mann, der, wie ich annahm, Gespräche wie dieses schon öfter geführt hatte, als ihm lieb war. Der schon in vielen Wohnzimmern und Küchen gesessen und tödliche Neuigkeiten wie diese übermittelt hatte.
    »Wir konnten den Leichnam noch nicht eindeutig identifizieren. Eine Kreditkarte, die Ihrer Frau gehört, wurde bei dem Opfer gefunden. Aber es gibt – und das ist jetzt sicher nicht leicht für Sie – erhebliche Verletzungen an dem …«
    Jedes einzelne Wort riss mir das Herz aus der Brust. »Opfer«, gelang es mir zu flüstern.
    »Ich fürchte, ja. Es hat den Anschein, als sei Ihre Frau ermordet worden.« Jetzt fühlte ich Tränen auf meiner Wange, quälende Schluchzer kämpften sich ihren Weg nach oben. Ich hörte mich selbst »O Sammy, o nein« sagen, als mein Blick auf das Foto in dem Acrylglasrahmen auf dem Couchtisch fiel – wir drei am Strand, Weihnachten vor ein paar Jahren auf Hawaii. Sammy, die Walt mit einem großen beigefarbenen Handtuch abtrocknet. Völlig banale Erinnerungsfetzen dieses Nachmittags schossen mir durch den Kopf: das lange Warten auf den Aperitif in einem Restaurant, ein Streit übers Parken. Walts gewohntes Leben. Alles aus und vorbei.
    »Mr. Miller, ich fürchte, wir …«, sagte Danko. Ich wusste, was er mich als Nächstes fragen würde. »Sie müssen …«
    »Ich muss mitkommen, um sie zu identifizieren«, ergänzte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    Er nickte traurig.
    »Ich … ich kann das nicht. Ich kann das Walt nicht zumuten.«
    »Officer Hudson kann hier bei Ihrem Sohn bleiben. Sie ist ausgebildete Psychologin und sehr gut im Umgang mit Kindern. Wir sollten in weniger als einer Stunde wieder zurück sein. Es sei denn, Sie haben jemanden in der Nähe, bei dem er sich wohler fühlt …«
    »Das hab ich, da … da ist eine Nachbarin.«
    Er nickte erneut. »Mr. Miller, in Anbetracht der Umstände wäre es vielleicht besser, Ihrem Sohn nur zu sagen, dass Ihre Frau einen Unfall hatte und dass Sie bald zurück sein werden.«
    Ich rief Irene vom Flur aus an. Sie ging beim zweiten Klingeln dran. »Sammy hatte einen Unfall«, probierte ich die Lüge bei ihr aus. »Ich muss mit der Polizei nach Regina fliegen. Ins Krankenhaus. Ich möchte Walt nicht mitnehmen. Tut mir leid, Irene. Aber wäre es möglich, dass Sie vielleicht …?«
    »O Gott. O mein Gott. Natürlich, Donnie. Sind Sie … ist sie okay?«
    »Ich glaube … es steht ziemlich schlecht, Irene.«
    Einen Augenblick lang glaubte ich fast selbst, was ich ihr erzählte. Ich malte mir aus, wie ich das Krankenhauszimmer betrat und Sammy dort liegen sah, inmitten eines Gewirrs von Schläuchen. Voller Blutergüsse und Schnittwunden, aber lebendig. Wie ich sie sanft auf die Stirn küsste und sie sich ein mattes Lächeln abrang, benommen von den Schmerzmitteln, während sie mir von dem Chaos auf der vereisten Straße berichtete.
    »O nein. O Gott«, sagte Irene. »Ich bin sofort bei euch.«
    Letztendlich schluckte Walt die Unfallgeschichte sehr viel problemloser als befürchtet. Er sah beunruhigt aus. Vielleicht war er aber auch eher neidisch, weil ich mit dem Hubschrauber fliegen durfte. »Ich bin in einer Stunde wieder da«, sagte ich ihm, zog den Reißverschluss meiner Daunenjacke zu und suchte nach meinen Handschuhen, als es sachte an der Glastür klopfte. Danko öffnete Irene, die nervös nickend in die Runde grüßte.
    »Danke fürs Kommen, Irene.«
    »Nicht doch«, sagte sie. »Ich habe ein paar Sachen mitgebracht, nur falls es länger dauern sollte als erwartet.« Sie setzte ihre Tasche ab, eine große, alte Arzttasche, wie Mary Poppins sie hatte. »Und Sie sind sich auch sicher, dass es keine Probleme macht, bei diesem Wetter zu fliegen, Officer?«
    »Ja, Ma’am«, antwortete Danko. »Wir können aufsteigen und drum herumfliegen.«
    »Also gut«, sagte ich, ging auf die Knie und umarmte Walt, wobei ich mich wieder mühsam beherrschen musste, nicht zu schluchzen. Ich holte einmal tief Luft.

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