Das Gebot der Rache
nur mal die Situation an, die wir gerade erst in Kambodscha hatten. Kleine Jungs mit Maschinengewehren an vorderster Front. Die Leute wollen dich für ein Monster halten, William, weil es so einfach ist. Dann müssen sie nicht weiter darüber nachdenken.«
»Vielleicht bin ich das ja. Ein Monster.«
» Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern; sie töten uns zum Spaß . Das ist aus einem anderen Stück. King Lear. Weißt du, was müßig bedeutet, in dem Sinne, in dem Shakespeare es hier benutzt?«
Ich schüttelte den Kopf und musste gegen die Tränen ankämpfen.
»Grausam. Ungerecht. Unbarmherzig.«
»Wir haben das nicht gewollt.«
Er nahm meinen Kopf und drückte ihn sanft gegen seine Brust. Ich weinte. Und zum ersten Mal sprach ich aus, was an mir nagte, seit ich hierhergekommen war, seit ich den Brief meiner Mutter erhalten hatte.
»Was … was wird mit mir passieren?«
Er roch nach Tabak und Rasierwasser. Die Ärmel seines Anzugs kratzten an meiner Wange, als er mein Gesicht in die Hände nahm und mir in die Augen sah.
»Hör mir jetzt gut zu, William.« Ich atmete tief durch und bekam das Schluchzen in den Griff. »Ihr habt etwas Schreckliches getan, du und deine Freunde. Aber du kannst immer noch zu einem guten Menschen heranwachsen. Und lass dir von niemandem etwas anderes erzählen. Hast du mich verstanden?«
Ich blickte ihn nur an. Er umfasste mein Gesicht fester und wiederholte es noch eindringlicher: »Hast du mich verstanden, William? Das ist sehr wichtig.«
Ich nickte.
»Guter Junge«, sagte Mr. Cardew.
17
Wir luden unser Abendessen auf große Tabletts und setzten uns damit ins Wohnzimmer vor den großen Fernseher, der wiederum in einem noch größeren Schrank hauste, dessen Türen sich zurückklappen ließen, um den Blick auf dieses Wunder der Technik und die nicht weniger beeindruckenden Module der Stereoanlage preiszugeben. (Sammy war von allen Personen, die ich kannte, die erste gewesen, die es geschmacklos fand, einen riesigen Fernseher zum optischen Mittelpunkt eines Raumes zu erheben.) Nach längerem Zappen durch die Kanäle blieben wir schließlich bei Toy Story 3 hängen, obwohl wir den Film auf DVD hatten und er schon halb vorbei war. Seltsamerweise ist es immer spannender, einen Film zu entdecken, der bereits läuft, als sich die Arbeit zu machen, ihn selbst einzulegen.
Ich schreibe zwar, dass wir den Film sahen, doch in Wirklichkeit war ich mit meinen Gedanken ganz woanders und stellte im Kopf alle möglichen Berechnungen an. Angenommen, die Besprechung heute Mittag hatte länger gedauert, und sie war erst um drei losgefahren. Dann müsste sie bei einer Stunde Fahrtzeit, und selbst wenn es aufgrund des Wetters drei Stunden gewesen sein sollten, jetzt in Alarbus angekommen sein. Vielleicht hatte sie auch versucht, uns von einem öffentlichen Telefon aus anzurufen, aber die verdammte Leitung war ja tot. Ob sie, wenn sie Wi-Fi hatte, eine E-Mail von ihrem Blackberry schicken konnte? Ich überprüfte mein Postfach auf dem iPhone – nichts.
Der Film näherte sich dem Ende. In einem großen Verbrennungsofen rutschten die Spielzeuge einen Müllberg hinunter, dem Höllenfeuer und damit ihrem sicheren Verderben entgegen. Sie fügten sich in ihr Schicksal, nahmen sich an den Händen und bereiteten sich darauf vor, in Würde und Liebe zueinander dem Tod ins Gesicht zu sehen. Plötzlich schossen mir die Tränen in die Augen. Ich zog Walt auf dem Sofa an mich und drückte sein kleines Köpfchen gegen meine bebende Brust. »Nicht weinen, Daddy«, sagte Walt. »Alles wird gut.« Ich bin bei Filmen generell nah am Wasser gebaut, aber wenn sie mit Kindheit zu tun haben, mit Unschuld …
Vielleicht wäre es besser, zu Irene rüberzugehen und zu sehen, ob ihr Telefon noch funktioniert. Was, wenn Sammy die Nacht im Auto verbringen müsste? Solange die Heizung in ihrem Wagen lief, konnte eigentlich nichts passieren. Wann hatte sie zum letzten Mal getankt? Ach richtig, gestern Abend. Auf dem Weg zur Party ihrer Eltern, also …
»Daddy?« Walt hatte sich aufgesetzt.
»Mmmm?«
»Was ist das für ein Geräusch?«
Ich lauschte. »Was?«
»Hör doch mal.«
Ich drückte auf der Fernbedienung den Ton weg, rutschte an die Sofakante und lauschte konzentriert. Auf dem Bildschirm wurde gerade Lotso Knuddelbär vom Müllwagenfahrer aufgesammelt – mein letzter Eindruck, mein letzter Augenblick der Normalität. Jetzt konnte ich es auch hören: ein tiefes, regelmäßiges
Weitere Kostenlose Bücher