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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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»Wir sehen uns gleich.«
    Der Hubschrauber hob sofort ab, stieg dreißig, vierzig Meter beinahe kerzengerade in die Höhe – wobei ich Irene und Walt zurückwinkte, die im hell erleuchteten Küchenfenster standen –, bevor der Pilot die Nase der Maschine senkte und volle Kraft in den Wind hineinsteuerte. Wir entfernten uns vom Haus und gewannen allmählich an Höhe, während der Schnee um uns herumwirbelte.
    Danko und ich saßen hinten, unter einen Gewehrständer mit zwei Pumpguns und einem Sturmgewehr gekauert. Als wir unsere Flughöhe erreicht hatten und es ruhiger wurde, beugte er sich herüber und berichtete mir, was die Polizei bisher wusste.
    Sammy hatte das Büro gegen elf Uhr dreißig für ein außerplanmäßiges Meeting verlassen. Möglicherweise war diesem Treffen ein Anruf vorausgegangen – ihr Handy war noch nicht gefunden worden. Ihre Kollegen hatten angenommen, dass sie danach direkt nach Hause gefahren war, um dem Sturm zuvorzukommen. Ihre Leiche war um Viertel nach sechs von zwei städtischen Arbeitern auf einem unbebauten Grundstück am östlichen Stadtrand von Regina gefunden worden, ihre Brieftasche und ihr Ausweis ganz in der Nähe.
    Wann ich sie zuletzt gesehen hatte? Auf der Party. Als sie zum Kamin und dem Gespräch mit den Werbekunden zurückging. Den Träger ihres Abendkleides hochzog.
    Ich ließ den Kopf auf die Brust fallen und begann zu weinen. Danko blickte in die andere Richtung.
    Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir miteinander sprechen, hätte ich ihr einen Kuss auf den Mund gedrückt. Ich hätte ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe, hätte ihr dafür gedankt, dass sie uns Walt geschenkt hatte und dass sie ihm eine so gute Mutter war. Ich hätte ihr von all den Dingen erzählt, an die ich mich aus unseren gemeinsamen Jahren erinnerte. All die Dinge, über die wir nie gesprochen hatten, die aber für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt waren. Alberne, kleine Momente.
    Sammy, wie sie kicherte und »Oh, verstehe …« sagte, als ich mich unbeholfen über den Kneipentisch beugte, um sie zum ersten Mal zu küssen.
    Sammy, wie sie lachte, als sie von meiner Angst vor Spinnen erfuhr.
    Sammy auf dem Hotelbett, wie sie auf den Knien zu mir aufblickte, das Kinn verschmiert, und sagte: »Junge, das dürfte für heute aber genug Protein sein.«
    Sammy, die fürchterlich weinte, als wir uns das erste Mal stritten.
    Sammys schuldbewusster Gesichtsausdruck, als ich sie überraschend in einem Fastfood-Restaurant dabei ertappte, wie sie gerade in einen Burger beißen wollte.
    Sammy, wie sie in die Kissen sank, nachdem sie gerade Walt geboren hatte. Benommen vom Blutverlust und fahl wie eine Geisha, aber lächelnd, als sie sah, wie ich ihn im Arm hielt.
    An all das erinnere ich mich, Sammy. An alles.

19
    Es war bei Miss Gilchrist im Unterricht passiert, etwa eine Woche nachdem Banny den Professor zwingen wollte, das Poster zu essen.
    Der Schultag ging dem Ende zu. Müde und lustlos saßen alle in der Spätfrühlingshitze des Klassenraums. Miss Gilchrist hatte in ihrem Klassenzimmer bunte, fast schon philosophische Poster an den Wänden hängen – ein Cartoon-Kind auf einem Hocker, das Kinn auf die Faust gestützt, über dem Kopf eine Denkblase, in der stand: »Manchmal setze ich mich, um nachzudenken, und manchmal setze ich mich auch nur.« Oder vier Kühe auf unterschiedlichen Weiden, durch Stacheldrahtzäune voneinander getrennt, und jede Kuh steckte ihren Kopf durch den Zaun, um das Gras der anderen zu fressen.
    Thema des Unterrichts war das Gedicht In the Snack Bar von Edwin Morgan. Ich weiß nicht, warum sie sich an diesem Tag plötzlich Banny vorknöpfte. Vielleicht hatte sie die Nase voll davon, dass er ständig aus dem Fenster starrte, ganz offensichtlich nicht zuhörte, sein Buch oder sein Pult verunstaltete und einfach nie aufpasste. Vielleicht war es das unaufhörliche Geflüster und Gekicher mit Tommy, der neben ihm saß. Was immer der Grund war, sie unterbrach Jackie Shaws endlosen, monotonen Vortrag des Gedichts und sagte: »Derek Bannerman?«
    Banny blickte auf und unterbrach sein Getuschel mit Tommy. »Was?«
    »Entschuldigung?«
    Ein Seufzen. »Was, Miss?«
    »Was glaubst du, warum der Dichter sich ausgerechnet für dieses Bild hier entschieden hat?«
    Ein leerer Blick. Blanker Hass. »Keine Ahnung, Miss.«
    »Nun, ich möchte dich bitten, darüber nachzudenken, Derek.«
    Stille. Miss Gilchrist saß auf der Kante ihres Pults, die Arme

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