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Das gebrochene Versprechen

Das gebrochene Versprechen

Titel: Das gebrochene Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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ähnliche Gedankenkette beschäftigt wie mich.
Die Briefe waren, auch wenn sie immer drängender und bizarrer wurden, doch eine
ziemlich indirekte Form der Verfolgung. Von da zu direkter Gewalt war es ein
Sprung, den der Absender oder die Absenderin aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht tun, sondern in Zwischenschritte aufgliedern würde. Ich nickte zustimmend
und begann, die unmittelbare Umgebung abzusuchen, indem ich sie in handliche
Segmente aufteilte. Es dauerte nicht lange, bis ich ein Muster in all der
chaotischen Aktivität erahnte: jeder dort hatte seine Funktion, seinen Ort. Das
Publikum war vom Veranstaltungspersonal durch eine Phalanx von Sicherheitsleuten
getrennt.
    Der Golf-Cart hielt unmittelbar
an der Bühne, und wir stiegen aus. Ricky verabschiedete sich mit einem
Händedruck von dem Reporter, der von Rattray davongeleitet wurde. Als mein
Schwager zu uns trat, blitzten seine Augen von einer elektrischen Energie, die
sich schon seit unserer Ankunft aufgebaut hatte. Er sagte: »Mann, hatte der
Kerl merkwürdige Fragen. Er wollte wissen, wie es sich für mich anfühlt, Ricky
Savage zu sein. Warum hat er mich nicht gleich gefragt, wie es sich für mich
anfühlt zu atmen?«
    Seit Ricky auf seinen
Auftrittsmodus umgeschaltet hatte, war mir aufgefallen, dass die breite,
gedehnte Sprechweise des Central Valley bei ihm immer ausgeprägter wurde, als
ob er die Wurzeln aktivierte, die sein Talent genährt hatten. Auch seine
Reaktionen waren jetzt anders: schneller, aber von einem inneren Rhythmus
gezügelt. Als er Hy und mich mit den vier Mitgliedern seiner Band bekannt
machte und uns auf einem Beleuchtungspodest rechts der Bühne unterbrachte,
spürte ich, dass er keinen von uns sah; er war jetzt ein strikt kontrolliertes,
autarkes System, das nur noch auf die Reize reagieren würde, die es brauchte,
um einen guten Auftritt hinzulegen.
    Die Bandmitglieder waren ein
ganz anderes Kapitel. Sie gluckten zusammen, witzelten und schwatzten — Kumpels
in Erwartung eines vergnügten Abends. Ihre lockere Art grenzte sie von Ricky
ab, machte klar, wer hier die Begleitband war und wer der Star; ihre
Kameraderie unterstrich seine Einsamkeit. Ich musste daran denken, was er
vorhin gesagt hatte, über die Club-Tingelei und das Vergnügen, auf die
Kehrseite eines abgehalfterten, drittklassigen Sängers zu starren. Konnte es
sein, dass jemand aus seiner Band einen ähnlichen Frust schob? Dass einer von
ihnen — oder vielleicht nicht nur einer — meinem Schwager den Erfolg neidete?
    Während der gesamten Ansage
setzten die vier ihre leisen Witzeleien und Bemerkungen fort. Doch dann schwoll
die Stimme der Menge an, und donnernder Applaus brach los, und die Musiker
schalteten, einer nach dem anderen, auf denselben hochkonzentrierten Zustand um
wie Ricky. Er sah zu ihnen hinüber, gab ihnen ein Zeichen mit erhobenem Daumen
und lief auf die Bühne. Einen Atemzug später folgten sie ihm.
    Das Gejohle der Menge
kulminierte jetzt; Flutlichtscheinwerfer schwenkten über das Publikum. Die
meisten Leute standen. Sie klatschten, schrien, pfiffen. Auf der einen Seite
entfaltete sich eine Konfettiwolke. Ziemlich weit vorn stand eine junge Frau,
die Augen geschlossen, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Eine ältere Frau hüpfte
auf und ab, mit dem glühenden Gesicht eines Teenagers. Ein Schauer lief mir
über den Rücken. Ich rief Hy zu: »Ich wusste ja, dass er ein Star ist, aber
nicht, was für einer!«
    Hys Augen glänzten vor
identifikatorischer Erregung. »Kannst du dir vorstellen, da oben zu stehen und
fünfundzwanzigtausend Menschen deinetwegen ausflippen zu sehen?«
    »Lieber stehe ich einem
Gangster mit einer Uzi gegenüber.«
    Die riesige Menschenmenge und
der Geräuschpegel fochten Ricky nicht an. Er stand entspannt da, in seinem cremefarbenen
Westernanzug, die Gitarre umgehängt, und hob dann schließlich Ruhe heischend
die Hände. Als das Tosen zu Geraschel und Flüstern abgeschwollen war, ergriff
er sein Mikro und sprach mit einer Stimme, die — für jemanden, der ihn so gut
kannte wie ich — gleichzeitig nah und vertraut und unendlich fern war.
    »Danke sehr. Und wir möchten
euch auch dafür danken, dass ihr heute Abend hierher gekommen seid, um den
Kampf für die Opferrechte zu unterstützen. Es ist Zeit, dass wir uns
zusammenschließen und sagen ›Es reichte Und es sind Leute wie ihr, die
mithelfen, diejenigen zu erreichen, die nicht hören wollen. Von denen handelt
dieser Song, und gewidmet ist er Tina, Sandy und

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