Das gebrochene Versprechen
Jamie?«
Er zog eine Braue hoch.
»Die Mädchen sind beide ganz
schön sauer auf ihre Eltern. Und Charlene ist völlig von der Rolle. Diese
Drohungen gegen Ricky könnten eine von ihnen auf eine Idee gebracht haben.«
»Guter Gott, ich hoffe, da
liegst du daneben. Aber derjenige, der diesen Schuss abgegeben hat, kannte sich
hier aus. Die Sicherheitsscheinwerfer hinterm Haus sind nicht von allein
ausgegangen; jemand hat die Kippsicherung umgelegt. Ein Teil der Alarmanlage —
die Melder auf der Mauer an der Straße — war ebenfalls lahm gelegt.«
»Also, wo war die Familie?«
»Alle auf ihren Zimmern, soweit
ich weiß. Und Ricky sagt, weder er noch Charlene besitzen eine Waffe. Ich habe
meine Leute alles absuchen lassen, einschließlich der Autos, aber natürlich
kann man bei Nacht nicht das ganze Gelände durchkämmen. Da draußen gibt es jede
Menge Stellen, wo jemand, der sich hier auskennt, ein Gewehr verstecken
könnte.«
»Ein Gewehr? Demnach habt ihr
die Kugel gefunden?«
»Ja, Kaliber dreißig. Hat Rats
Schulter angekratzt und sich dann in einen Sessel gebohrt.«
Ich schwieg, vergegenwärtigte
mir die Szene im Wohnzimmer, unmittelbar ehe die Glasfront zerborsten war.
»Weißt du, Ripinsky, ich glaube nicht, dass der Schuss jemanden treffen
sollte.«
»Ach?«
»Nein. Unmittelbar bevor er
abgegeben wurde, merkten Rattray und Ricky, dass ich oben an den Stufen stand.
Ricky machte einen Schritt auf mich zu, und Rattray bewegte sich ebenfalls —
genau dorthin, wo eben noch der Abstand zwischen ihnen gewesen war. Ich
vermute, dass der Schütze auf diesen Zwischenraum gezielt hat, aber schon am
Abdrücken war, als Rattray in die Schusslinie trat.«
»Interessant. Wie das mit der cd, die Jamie gekriegt hat — noch so
eine Verhöhnung oder Warnung.« Hy dachte kurz darüber nach, gähnte dann noch
heftiger und zeigte auf die Papiere in meiner Hand. »Was ist das?«
»Informationen aus Rickys
Akten, die ich gerade an Keim ins Büro gefaxt habe.«
»Bist du sie durchgegangen?«
»Ich habe angefangen, bin aber
zu hundemüde, um mich zu konzentrieren. Und hungrig. Ich habe seit heute Mittag
nichts mehr gegessen.«
»Ich auch nicht, wenn ich’s
recht bedenke. Ich finde, wir beide plündern jetzt den Kühlschrank und erklären
unser Nachtwerk für getan. Ich habe in unserem Bungalow eine schöne, tiefe
Massagewanne gesehen.«
Eine verlockende Vorstellung,
aber ich schüttelte den Kopf. »Ich will noch nach meinen Nichten sehen, und
wenn du mit dem Dope Recht hast, versuche ich nochmal, zu Charlene
durchzudringen. Wenn ich das nicht schaffe, gehe ich runter zum Studio und rede
mit Ricky. Außerdem will ich mir die Bandmitglieder sowieso mal genauer
angucken.«
Auf dem Plattenweg zum
Probenstudio beschwor meine hyperaktive Phantasie einen Heckenschützen im
Schattendunkel herauf. Kleine Spots dicht überm Boden illuminierten meine Füße
und machten den oberen Teil meines Körpers zu einer deutlichen Silhouette. Ich
sah mich mit den Augen eines Schützen: allein, ein bequemes Ziel. Ich wartete
auf das Pfeifen einer Kugel, den Knall eines Schusses —
Hör auf!, vergatterte ich mich.
Du fährst auf dieses Spiel ab.
Diese Art Hochspannung war
etwas, worauf ich ansprang, wonach ich jieperte, wenn ich es zu lange nicht
gehabt hatte. Wenn mich die Arbeit an einem langwierigen Fall ermüdet hatte,
gab sie mir einen Energieschub. Wenn ich down war, beflügelte sie mich wieder.
Letzteres war der Grund, weshalb ich mich jetzt in dieses Gefühl hineinsteigerte;
die Untergangssituation hier drohte mich mit hinabzuziehen.
Als ich nach meinen Nichten
geschaut hatte, waren sie hoffnungslos bedröhnt gewesen, so zu, dass sie kaum
noch vernünftig reden konnten. Bei meinem Erscheinen hatte Chris sich wieder in
stumme Distanziertheit zurückgezogen. Jamie hatte mich angefaucht, es kümmere
sie einen Scheiß, wenn ich der ganzen Welt, einschließlich ihrer Scheißeltern,
erzählte, dass sie bekifft sei. Ich war wieder gegangen, traurig und innerlich
hohl.
Es war eine Versuchung, Chris’
und Jamies Zustand auf unsere drogendurchseuchte Gesellschaft zu schieben, aber
ein gut Teil der Schuld lag eindeutig bei Charlene und Ricky — und den
Bandmitgliedern, die den Mädchen das Zeug gegeben hatten. Und heute Nacht
schien meine Schwester entschlossen, sich ihren mütterlichen Pflichten zu
entziehen; als ich zum zweiten Mal an ihre Tür geklopft hatte, war gar keine
Reaktion gekommen. Ich hoffte, dass ich bei Ricky mehr
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