Das Geflecht
sollte, ins Freie zu entkommen. Leon würde zurückkehren und die Rettungskräfte mitbringen. Es war nur eine Frage der Zeit. Wenn Böttcher sie unschädlich machen wollte, musste er selbst einen Vorstoß wagen.
«Du kannst dich nicht verstecken!» Seine Schritte tappten ein Stück nach links – ungefähr die Richtung, in der Tia verschwunden war. «Ich kriege dich, verlass dich drauf!»
Ganz ruhig, dachte Tia und unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und tiefer in das Labyrinth zu flüchten. Er weiß nicht, wo ich bin. Er versucht mich nur zu verunsichern, damit ich mich verrate.
Sie verharrte stocksteif, bis Böttcher sich auf zwei Meter genähert hatte, und hörte ihn leise fluchen, als er gegen einen Steinsöller stieß.
«Ich weiß, dass du hier bist! Gib mir die Münze und das Probenröhrchen, dann können wir dieses Versteckspiel beenden.»
Tia mochte naiv sein, wenn es um das Einschätzen von Menschen ging, doch auf diese List einzugehen kam ihr nicht in den Sinn. Stattdessen wartete sie, bis Böttchers tastende Hände die Säule erreicht hatten, hinter der sie sich versteckte, und sondierte rasch das Gelände hinter sich. Die Luftbewegungen ließen auf mehrere verschachtelte Hohlräume schließen, doch wenn sie einfach aufsprang und losrannte, würde sie gewissstolpern oder gegen eine Wand prallen. Sie brauchte dringend ein genaueres Bild – und das war nicht ohne Zungenecho zu bekommen. Konnte sie es wagen, zwei- oder dreimal leise zu schnalzen?
Böttchers Schritte erstarrten, als er das Geräusch hörte. Wahrscheinlich hatte er lauernd den Kopf erhoben, weil er die seltsamen Klicklaute nicht einzuordnen vermochte, die wie fallende Wassertropfen klangen.
Tia gab ihm keine Zeit, sich über seine Wahrnehmung klarzuwerden. Sobald das Echo sie mit den nötigen Informationen versorgt hatte, sprang sie aus ihrer Deckung und stürmte los. Böttcher stieß einen wütenden Schrei aus und setzte ihr nach, stolperte jedoch über den kegelförmig verdickten Fuß der Säule. Währenddessen hatte Tia die nächste Wand erreicht, tastete sich eilig daran entlang und duckte sich hinter einen Steinsockel.
«Seien Sie bloß vorsichtig!», rief sie in einem Anflug von Übermut. «Sie werden sich noch den Kopf einrennen!»
«Sei
du
bloß vorsichtig!», knurrte Böttcher, der sich aufgerappelt hatte. «Je mehr du redest, desto leichter finde ich dich.»
Genau das war Tias Plan: Direkt vor ihrem Versteck nämlich verlief ein Spalt im Boden. Er war nur eine Armlänge tief und nicht sehr breit, doch die Chancen standen gut, dass Böttcher hineintreten und sich vielleicht ein Bein verstauchen würde.
«Was haben Sie sich bei der Sache gedacht?», rief sie, um ihn zu reizen. «Warum verfrachten Sie Fässer mit Atommüll in ein stillgelegtes Bergwerk?»
Zu ihrer Überraschung antwortete Böttcher ohne Zögern.
«Es gab jemanden, der diesen Müll unbedingt loswerden wollte. Und wer es sich leisten kann, erledigt so eine Drecksarbeit natürlich nicht selbst, sondern bezahlt andere dafür.» Seine Stimme klang ruhig, während er sich zielstrebig näherte.Offenbar war er überzeugt, dass sie in der Falle saß. «Ich war nur der Chauffeur: einer von den sprichwörtlichen Kleinen, die man so gerne aufhängt, während man die Großen laufen lässt.»
«Und Sie glauben, das entschuldigt Ihr Tun?», gab Tia zurück. «Dann erklären Sie mir mal, warum in dieser Höhle zwei Tote liegen – und zwar, allem Anschein nach, polnische Hilfsarbeiter ohne professionelle Ausrüstung.»
«Es war ein Unfall», hallte Böttchers gedämpfte Stimme zu ihr herüber. «Natürlich brauchte ich Leute, die die Fässer nach unten schafften und in den Schacht warfen.»
«Illegale vermutlich, die bereit waren, für ein paar schnelle Euros jeden Job zu erledigen?»
«Es war ein Unfall!», wiederholte Böttcher. «Eins der Fässer hat sich im Schacht verkeilt und ist stecken geblieben. Wir nahmen ein Seil zur Hilfe, und ich schickte einen der Jungs in den Schacht hinunter, um es freizubekommen. Dabei ist er abgestürzt und in der Höhle gelandet. Der andere geriet in Panik und bestand darauf, selbst in den Schacht zu steigen und ihn herauszuholen. Idiot. Als er unten war, hörte ich ihn rufen:
Mein Freund schwer verletzt! Kann nicht klettern! Brauchen Arzt!
»
Tia lauschte mit wachsendem Entsetzen. «Und da haben sie einfach das Seil wieder heraufgezogen und die beiden sich selbst überlassen?»
«Was hätte ich denn tun sollen?», zischte
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