Das Geflecht
Böttcher. «Ich konnte ja schlecht den Rettungsdienst rufen!»
Tia schüttelte langsam den Kopf, als könnte sie dadurch die unglaubliche Wahrheit abwehren. Grauen hatte sie ergriffen vor dem Schicksal jener beiden Männer, die womöglich stunden- oder tagelang verzweifelt um Hilfe geschrien hatten – und Grauen vor dem Mann, der wenige Meter entfernt im Schutz der Dunkelheit auf sie zu pirschte.
Was mochte in ihm vorgegangen sein, als er damals das Bergwerk verlassen hatte, während hinter ihm die Schreie der Eingeschlossenen gellten?
Gar nichts, erkannte sie. Wahrscheinlich war er bloß froh gewesen, dass die Hilfsarbeiter illegal im Land waren und folglich von niemandem vermisst wurden. Er hatte keinerlei Skrupel … und gewiss würde er auch nicht zögern, sie aus dem Weg zu schaffen. Echte Todesangst ließ ihre Beine zittern, während sie sich an die Felswand in ihrem Rücken drückte.
«Ich habe Leon alles erzählt!», rief sie im Versuch einer verzweifelten Ausflucht. «Er weiß von den Kennzeichen auf den Fässern und dass ich eine Probe genommen habe!»
«Du hast
niemandem
etwas erzählt», konterte Böttcher. «Das sagst du nur, um deine Haut zu retten. Glaub ja nicht, dass ich …»
Er verstummte abrupt, und Tia hörte seine Hose scharren. Böttcher war in die Knie gegangen und prüfte den Boden, gerade als er den Rand der Felsspalte erreicht hatte. Diesmal war er vorsichtig gewesen und hatte die Falle entdeckt.
«Kleines Biest!», zischte er. Dann tappten seine Füße nach rechts, und Tia begriff, dass er das Hindernis seitlich umrundete.
Weg hier!,
durchzuckte es sie. Böttcher war eben im Begriff, ihr den Fluchtweg abzuschneiden, den sie sich zurechtgelegt hatte. Notgedrungen brach sie zur anderen Seite aus, ohne sich die Zeit für einen Echo-Scan zu nehmen, und prallte prompt gegen einen Felsvorsprung.
«Hab ich dich!», schrie Böttcher, der ihr erschrockenes Keuchen vernahm, und hechtete auf sie zu.
Tia spürte den Luftzug seiner fuchtelnden Hände und entkam ihm nur um Haaresbreite. Blindlings flüchtete sie ins Dunkel, drehte sich auf der Stelle und schoss panische Klicklaute injede Richtung. Ein schmaler Durchgang bildete sich in ihrem Geist ab, und sie schlüpfte rasch hinein.
«Miststück!» Böttchers Stimme klang nicht halb so außer Atem, wie Tia sich fühlte. Diesmal hatte er die Ruhe bewahrt, während sie in Panik geraten war. Behutsam pirschte er voran, langsam, aber in der richtigen Richtung.
Er lernt schnell, dachte Tia mit Schrecken. Bemüht, kein Geräusch zu machen, zog sie sich tiefer in den Hohlraum hinter dem Durchgang zurück.
«Warum willst du eigentlich deine vorlaute Klappe nicht halten?», drang Böttchers Stimme zu ihr herüber. «Du hättest die beiden Kinder hinausbringen, zehntausend Euro kassieren und an deine Uni zurückkehren können – alle wären glücklich gewesen. Aber nein, du musstest ja unbedingt die Detektivin spielen.»
Tia tastete die Rückwand ihres Verstecks ab und entdeckte mehrere enge Nischen, aber keinen Ausgang. Der Raum war eine Sackgasse.
«Du fühlst dich moralisch überlegen, nicht wahr? Du glaubst, du bist etwas Besseres als ich – aber weißt du was? Für mich bist du nichts weiter als eine naseweise Göre.» Böttcher hatte den Durchgang erreicht und tastete sich hinein. «Ihr Studenten! An eurer Hochschule schwatzt ihr bestimmt abgehobenes Zeug über Umweltschutz, aber wie es in der Welt wirklich zugeht, davon habt ihr keinen Schimmer. Andere Leute müssen sich nämlich ihren Lebensunterhalt verdienen und zusehen, dass sie ihre Rechnungen bezahlen können. Mit der Annahme von Aufträgen darf man nicht wählerisch sein, wenn man als kleiner Unternehmer überleben will.»
Was jetzt? Was jetzt?, hämmerte es in Tias Kopf.
Da ihr kein Ausweg einfiel, drückte sie sich an die Wand, verharrte stocksteif und lauschte auf die näher kommende Stimme. Noch vier Meter, noch drei … innerlich spannte siesich in der Erwartung, Böttchers ausgestreckte Hände auf ihren Körper treffen zu spüren. Vielleicht konnte sie sich unter ihm wegducken und zum Ausgang flüchten – doch die Chance war gering. Der Hohlraum war zu eng. Böttcher würde sie zu fassen bekommen, bevor sie an ihm vorbeikam. Seine kräftigen Hände würden sie packen, sie mühelos festhalten und erneut den Weg zu ihrer Kehle finden.
••• 05 : 45 ••• DANA •••
Dana hörte nicht auf die Rufe in ihrem Rücken. Sie rannte den Stollen
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