Das Geflecht
ging solche stumme Besinnung irgendeinem aberwitzigen Entschluss voraus, und er fürchtete sich ein wenig davor. Schließlich spürte er, dass Tia sich nah zu seinem Ohr neigte.
«Hast du schon mal eine Luxation reponiert?»
Im ersten Moment verstand Leon kein Wort. Erst nachdem er in den fernsten Winkeln seines Gedächtnisses geforscht hatte, erinnerte er sich dunkel an einen Erste-Hilfe-Kurs – und begriff, warum Tia Fremdworte gebrauchte, die kein medizinischer Laie verstand.
«Das ist nicht dein Ernst!», gab er erschrocken zurück. «Du etwa?»
«Nur in der Theorie, aber wenn ich mir Mühe gebe, werde ich mich erinnern», sinnierte Tia. «Wie war das noch? Skapula-Manipulation nach Bosley und Miles …»
«Wovon reden Sie?», unterbrach Justin beklommen.
«Ich glaube, das kriege ich hin», entschied Tia. «Und eine andere Wahl haben wir nicht mehr. – Justin? Gehen Sie aus dem Weg und mischen Sie sich unter keinen Umständen ein!»
«Tia, um Gottes willen!» Leon wollte sie zurückhalten, doch Tia hatte sich bereits der Felsspalte zugewandt. Sie sprach ungewöhnlich sanft, aber eindringlich.
«Dana? Sie müssen jetzt sehr stark sein.»
Leon glaubte förmlich zu sehen, wie die Augen des Mädchens sich in stummem Entsetzen weiteten.
«Leon, du nimmst das rechte Bein, ich das linke. Auf mein Zeichen kräftig ziehen!»
«Nein!», schrie Dana, die plötzlich ihre Stimme wiederfand, in heller Panik. «Nein! Bitte!»
«Eins, zwei, drei!»
Die nächsten zehn Sekunden waren vermutlich die längsten in Danas jungem Leben – und Leon ging es kaum besser. Der Ruck, mit dem der Körper des Mädchens aus der Felsspalte glitt, schnitt ihm durch Mark und Bein, und er glaubte am eigenen Leib den sengenden Schmerz zu spüren, mit dem das eingeklemmte Schultergelenk aus seiner knöchernen Pfanne gehebelt wurde. Dana schrie gellend, und der Schrei schien nichtabbrechen zu wollen, hallte und brach sich an den Wänden der Höhle, bis ein dutzendfaches Echo sie erfüllte.
«Auf den Bauch!», zischte Tia. «Heb ihren Oberkörper an, sodass die Schulter frei hängt!»
Leon schob einen Arm unter Danas bebende Brust. Noch immer schrie sie, und er spürte die Vibration ihrer Lungen bis in seine Handflächen, wobei ihm ein Schauder den Nacken hinablief.
«Versuchen Sie sich zu entspannen, Dana!» Nun flackerte auch in Tias Stimme mühsam beherrschte Anspannung. «Nur einen Moment!»
Leon konnte nicht sehen, was sie tat, spürte jedoch, dass sie Danas rechten Arm angewinkelt hatte, während sie mit der anderen Hand die Schulter des Mädchens ergriff. Ein leises Knirschen, eine Drehung, ein Ruck – und plötzlich brachen Danas Schreie ab und gingen in ein halblautes Keuchen über.
«Gott sei Dank», raunte Tia ihrem Partner zu. «Dreh sie langsam herum, damit sie sich aufsetzen kann! Ich halte ihren Arm.»
Leon tat es, und das Mädchen sank kraftlos an seine Brust. Ihre Haut war kalt und ihre Kleidung vollkommen durchnässt, doch er spürte, dass ihre Knochen heil und alle Gelenke wieder am richtigen Platz waren.
Justin tastete sich zu ihnen und nahm Danas Kopf in beide Hände.
«Dani! Oh Gott!»
«Wie fühlen Sie sich?», fragte Tia.
«Besser», flüsterte Dana. Dann brach sie in Tränen aus.
Einen Moment lang blieben sie in der Wasserpfütze sitzen, alle vier nahe zusammengedrängt.
«Es tut mir so leid, dass ich Ihnen das antun musste», versicherte Tia sanft. «Aber ich werde es wiedergutmachen. Siemögen chinesisches Essen, nicht wahr? Wenn wir hier raus sind, gehen wir zum besten Chinesen in der Stadt, und ich spendiere Ihnen eine Riesenportion Chop Suey mit Bambus.»
Dana brachte ein schwaches Lachen hervor, während Justin ihr die nassen Haare aus dem Gesicht strich und sie auf die Stirn küsste.
«Aber jetzt müssen wir hier weg», entschied Tia. «Da drüben gibt es eine Felsstufe. Folgt mir!»
Es dauerte einige Zeit, bis es ihnen gelang, Dana zum Aufstehen zu bewegen. Das Mädchen, das stundenlang in unnatürlich verdrehter Stellung am Boden gelegen hatte, konnte sich kaum auf den Beinen halten, und der unebene, von Faserbüscheln übersäte Boden erschwerte das Gehen. Leon und Justin nahmen Dana in die Mitte. Sie wankte und umklammerte Leons Arm so fest, dass es wehtat.
«Geht’s?», fragte er.
«Ist schon gut», brachte sie zittrig hervor. «Es ist nur diese schreckliche Dunkelheit.»
«Ich bin bei dir», beruhigte sie Justin. «Dir kann nichts passieren.»
«Halt mich ganz fest!», bat
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