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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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bestimmte Stelle.
    «Was ist los?», fragte Leon. Er war es bereits aus langer Erfahrung gewohnt, dass Tia schlechte Nachrichten für sich behielt, um andere zu schonen. «Komm schon, Tia, spuck’s aus!»
    Seine Partnerin seufzte. «Also gut. Wir sind nicht allein hier unten.»
    «Was?» Justin schreckte hoch. «Wie meinen Sie das?»
    «Etwas hat Finn angegriffen, während er dort oben auf dem Müllberg lag», erklärte Tia, «und es hat sich auch an Danas Bein zu schaffen gemacht. Fast die ganze Höhle ist davon bedeckt. Es breitet sich mit einer Geschwindigkeit aus, die ich noch bei keinem heterotrophen Organismus gesehen habe. Offenbar greift es nur nackte Haut an. Warum ich bisher verschont worden bin, ist mir ein Rätsel. Schließlich laufe ich mit nackten Armen und Beinen herum.»
    «Was ist denn das für Zeug?», fragte Justin. «Ich habe es auch gespürt, es fühlt sich an wie Moos oder so was.»
    «Es ist ein Pilz.»
    Für einen Augenblick schwiegen alle – selbst Leon, der Tias Vermutung bereits kannte. Zwar hatte er mit eigenen Augen den schwarzen Flaum auf Finns Gesicht gesehen, doch die Vorstellung, dass es sich dabei um einen lebenden Organismus handelte, schien ihm noch immer grotesk.
    «Ein
Pilz?
», wiederholte Justin schließlich. «Augenblickmal! Reden wir von den lustigen kleinen Hütchen, die man in Scheiben schneidet und auf eine Pizza legt?»
    «Nicht ganz», sagte Tia. «Die lustigen kleinen Hütchen, die Sie meinen, sind nur Fruchtkörper, mit denen bestimmte Pilze ihre Sporen verbreiten. Der eigentliche Pilz besteht aus einem Geflecht von Fasern, sogenannten Hyphen, mit denen er Nährstoffe aufspürt.»
    «Wie Wurzeln?»
    «So ähnlich – doch es sind keine Wurzeln, denn Pilze sind keine Pflanzen. Sie brauchen nicht einmal Sonnenlicht. In manchen Höhlen habe ich schon Pilze gefunden, die ganze Wände überzogen oder wie Flechten von der Decke hingen. Alles, was sie brauchen, ist Nahrung, und dabei sind sie nicht wählerisch: Ein paar Holzstücke können genügen, eingeschleppter Abfall, Kot von Fledermäusen oder Kadaver. Sie leben von allen Arten organischer Rückstände, ob pflanzlich oder tierisch. Einige können sogar Haut, Haare, Insektenpanzer und Fingernägel verdauen.»
    Justin verstummte. Dafür jedoch regte sich Dana, und als sie sprach, klang ihre Stimme gepresst.
    «Dieses Ding hat   … mein Bein berührt», flüsterte sie.
    «Machen Sie sich erst einmal keine Sorgen», sagte Tia. «Ein paar Hyphen sind in Ihre Haut eingedrungen, aber Ihr Körper wird damit fertig werden. Der beste Schutz, den wir haben, ist unser körpereigenes Immunsystem. Normalerweise wehrt es Pilze ohne größere Schwierigkeiten ab.»
    «Wollen Sie sagen, dass dieses Ding versucht hat   …»
    Justin stockte – doch Leon erriet, was er sagen wollte.
    Ja, dachte er, Tia hat vermutlich recht: Dieser Pilz hat versucht, Danas Bein anzuknabbern.
    «Oh Gott», flüsterte Dana, die offenbar denselben Gedanken hatte, mit Grauen in der Stimme.
    «Er tut, was Pilze eben tun», kam Tia vorsichtig auf Justins Frage zurück. «Wenn sie auf organische Substanzen treffen, überwuchern sie die Nahrungsquelle und scheiden Enzyme aus, um sie zu zersetzen.»
    «Ich habe noch nie von einem Pilz gehört, der mit solcher Geschwindigkeit wächst», warf Leon ein.
    «Ich auch nicht», gab Tia zu. «Schimmelpilze bringen es auf einige Zentimeter pro Tag, aber unser monströser Freund hier scheint das Gleiche in einer halben Stunde zu schaffen.»
    «Glaubst du, dass Sporen in der Luft sind?», fragte Leon. Er scheute sich, seine Befürchtung deutlicher auszusprechen, war jedoch sicher, dass Tia ihn verstand. Im Gegensatz zu ihr war Leon kein Biologe, aber er wusste, dass Pilzsporen mit der Atemluft in die Lunge gelangen und gefährliche Krankheiten auslösen konnten. Wenn es so stand, war jede Sekunde, die sie ohne Atemschutz in der Höhle verbrachten, ein tödliches Risiko.
    «Ich glaube nicht», sagte Tia. «Wenn Sporen in der Luft wären, müsste ich es riechen können. Ermutigend ist außerdem, dass niemand von uns hustet oder Atembeschwerden hat. Dafür aber scheint der Pilz nackte Haut anzugreifen, besonders, wenn sie aufgeschürft oder verletzt ist.»
    «Moment mal!», bat Justin, der offenbar Mühe hatte, ihr zu folgen. «Sie sprechen immer nur von
einem
Pilz. Wollen Sie damit sagen, dass dieses ganze Zeug – auf dem Hügel dort drüben, an den Wänden und überall auf dem Boden – ein einziges Wesen

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