Das Geflecht
Dana leise.
Leon ahnte, wie sie sich fühlte. Die vollkommene Finsternis machte auch ihm zu schaffen, wenngleich er die Empfindung verdrängte. Normalerweise sagte man ihm einen stoischen Charakter nach – und das stimmte auch, soweit es seine Nervenstärke im Alltag betraf, etwa bei Stress auf der Arbeit, beim Zahnarzt oder im Straßenverkehr. Schwieriger war es in Situationen, in denen er völlig machtlos war: wenn irgendeine Technik versagte, der Strom ausfiel oder sein Computer abstürzte. Sich in vollkommener Dunkelheit zu bewegen gehörte ebenfalls dazu, wie er nun feststellen musste.
Während sie sich vorantasteten, rief Tia ihren Funkpartner.
«Ich bin hier», meldete sich eine tiefe Stimme. «Wie ist die Situation bei Ihnen?»
«Wir haben es endlich geschafft, Dana zu befreien. Alle sind wohlauf.»
«Wunderbar!»
«Mit wem spreche ich eigentlich?»
«Mein Name ist Böttcher. Ich bin mit Herrn Bringshaus hier, sozusagen als Freund der Familie.»
«Herr Böttcher!», rief Justin erfreut, ließ Danas Arm los und drängte sich näher zu Tia, um mitzuhören. «Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Sie auch da sind.»
«Ist doch selbstverständlich! Ich wollte deinen Vater in dieser schwierigen Lage nicht alleinlassen», erklärte Böttcher.
«Kann ich mit ihm sprechen?», bat Justin.
«Leider nicht. Ich musste ihn nach oben schicken, damit der Arzt sich um ihn kümmert. Er hat beim Einsturz der Decke einen Stein an den Kopf bekommen.»
«Schlimm?»
«Nein nein, es geht schon. Ihm war bloß schwindlig, deshalb hat er mir das Funkgerät überlassen. Im Moment halte ich hier allein die Stellung. Die Feuerwehr telefoniert oben mit der Rettungsleitstelle, um Räumgeräte anzufordern.»
«Ich bin nicht sicher, ob uns das helfen wird», meinte Tia skeptisch. «Der Verbindungsgang vom Hauptschacht zur Abbaukammer ist sehr eng. Einen Räumbagger oder ähnlich schweres Gerät kriegt man da nicht hindurch.»
«Vielleicht genügt ja schon ein Presslufthammer, um die großen Blöcke zu zertrümmern.»
«Das Risiko würde ich nicht eingehen! Die Erschütterungen könnten das Gewölbe komplett zum Einsturz bringen.»
Böttcher seufzte. «Da könnten Sie recht haben. Fällt Ihnen denn etwas Besseres ein?»
«Im Augenblick noch nicht», gab Tia zu. «Aber ich denke darüber nach. Das Dringlichste ist jetzt, dass wir uns um Dana kümmern. Sie ist völlig durchnässt und friert. Wir suchen uns gerade einen trockenen Platz. Bitte bleiben Sie dran!»
«Geht klar», bestätigte Böttcher.
Die kleine Gruppe erreichte eine erhöhte Fläche, die zwar aus nacktem Stein, aber trocken war. Kaum angekommen, knickte Dana ein und sank kraftlos zu Boden. Zum Glück war Justin rechtzeitig zur Stelle, um sie aufzufangen.
Leon hörte, wie Tia ihr Rückengepäck ablegte.
«Dana, Sie müssen die nassen Sachen ausziehen», ordnete sie an, «alles, was auch nur ein wenig klamm ist – selbst die Unterwäsche, falls sie etwas abgekriegt hat. Ich helfe Ihnen.»
«Das schaffe ich schon alleine», wehrte Dana zittrig ab.
«Nein, lassen Sie mich mit anfassen! Sie dürfen den verletzten Arm jetzt nicht belasten, sonst besteht die Gefahr, dass er wieder auskugelt. Ich habe einen Overall aus warmem Stoff im Gepäck, und für den Arm mache ich Ihnen eine Halteschlinge. Am besten benutzen wir den Gürtel Ihrer Jeans dafür.»
Eine Weile war nichts als Rascheln und Scharren zu hören, während Dana sich mit Tias Hilfe von ihren Kleidern befreite.
«Außerdem haben wir eine elektrische Heizdecke.» Tia zog das zusammengerollte Utensil aus ihrem Gepäck. «Einschalten sollten wir sie aber nur im äußersten Notfall. Sie läuft mit Akku, also nicht allzu lange.»
Sie wickelten Dana in die Decke, und Justin zog sie an sich, um ihren Kopf an seiner Schulter zu bergen. Leon rückte gleichfalls näher, denn inzwischen spürte auch er die Kälte, die in der feuchten Höhle herrschte. Lediglich Tia schien sich keinen Moment ausruhen zu wollen, stattdessen tastete sie ringsum die gesamte Felsterrasse mit den Händen ab.
«Scheint sicher zu sein», murmelte sie schließlich. «Hat irgendjemand Schmerzen oder Schwellungen an einer unbedeckten Hautpartie – Gesicht, Hände, Fußknöchel?»
Leon blickte verständnislos in ihre Richtung. «Wovon sprichst du?»
«Sorgfältig abtasten!», verlangte Tia.
Während Leon und Justin ihre Hände und Gesichter befühlten, ließ sie selbst sich an Danas Knöchel nieder und strich prüfend über eine
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