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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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– betreutes Wohnen nennt sich das heutzutage. Aber Tieken war entsetzt, als ich ihr davon erzählte, und wehrte sich mit Händen und Füßen. ‹Bevor du mich in so ein Heim steckst›, sagte sie, ‹sorge ich lieber dafür, dass ich allein zurechtkomme.› Und das tat sie. Es war, als hätte sie plötzlich den Entschluss gefasst, nie wieder hilflos zu sein. Sie tastete sich allein durch die Wohnung, holte sich blaue Flecken und verbot mir, ihr zu helfen. Wenn ich es dennoch tat, übte sie heimlich in der Nacht. Nach zwei Monaten konnte sie sich im Haus sicher bewegen und wollte hinausgehen. Ich bat Nachbarn, mit ihr spazieren zu gehen, aber sie entwischte ihnen und streunte stundenlang allein umher. Als Nächstes wollte sie mit dem Bus zur Schule fahren – einer speziellen Sonderschule für Sehbehinderte in der Nachbarstadt. Bis dahin hatte ich sie tagtäglich selbst kutschiert. Na, ich spare mir mal die Einzelheiten unseres häuslichen Machtkampfes. Jedenfalls setzte meine Kleine am Ende ihren Willen durch. Ich konnte damals kaum eine Nacht ruhig schlafen.»
    «Das glaube ich gern», sagte Carolin.
    «Haben Sie Kinder?»
    «Nein – aber ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie war. Sie hatten bereits Ihre Frau verloren, und nun mussten Sie sich ständig Sorgen um Ihre Tochter machen.»
    «Tja   …» Traveen seufzte. «Und dann geschah das Wunder.»
    «Das Wunder?»
    «So kam es mir zumindest vor. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Vielleicht hatte Tieken einfach beschlossen, so schnell und so viel wie möglich zu lernen, um sich wieder in der Welt zurechtzufinden. Vor ihrem Unfall war sie eine mittelmäßige Schülerin gewesen, doch nun legte sie plötzlich los, lernte in Rekordzeit Blindenschrift, las ein Buch nach dem anderen und überflügelte ihre ganze Klasse. Sie verlangte eine Punktschriftmaschine – eine spezielle Schreibmaschine für Blinde   –, dann einen Computer mit Texterkennungssoftware und Braille-Drucker. Und als ich ihr sagte, dass das eine ganze Menge Geld kostet, meinte sie: ‹Na gut, dann werde ich das Geld eben verdienen.› Und das hat sie: mit Nachhilfestunden für jüngere Schüler. Es war kaum mehr eine Überraschung, als sie eines Tages zu mir kam und sagte: ‹Papa, ich will nach Marburg.›»
    «Marburg?»
    «Sie meinte die Carl-Strehl-Schule, das einzige Gymnasium für blinde Menschen in Deutschland. Es ist eine Art Internat, wo die Schüler in Wohngemeinschaften leben. ‹Aber ich besuche dich, sooft ich kann›, versprach sie, um mir die Sache schmackhaft zu machen – als wäre
ich
der arme Behinderte, der alleine nicht zurechtkommt.» Traveen schmunzelte. «Was sollte ich tun? Ich ließ sie ziehen. Immerhin gab der Erfolg ihr recht: Sie blühte auf, sobald sie dort war, und machte mit neunzehn ihr Abitur – als Jahrgangsbeste. Immerhin tat sie mir den Gefallen, zum Studieren nach Berlin zurückzukehren, sodass wir uns wieder häufiger treffen konnten. Tja, und heute reist sie um die halbe Welt, ist eine anerkannte Geologin und macht alle möglichen Entdeckungen, über die sie Artikel in Fachzeitschriften schreibt.»
    «Würden Sie Ihre Tochter als ehrgeizig bezeichnen?»
    «Ehrgeizig?» Traveen winkte ab. «Das ist das falsche Wort. Wenn Sie mich fragen: Die Kleine ist total verrückt.»
    Er sagte es in so trockenem Ton, dass Carolin herzlich lachen musste. «Ihrer Zuneigung tut das offenbar keinen Abbruch. Sie müssen mächtig stolz auf Tia sein.»
    Der alte Mann blickte versonnen durch die Windschutzscheibe nach draußen. «Mein wunderbares, verrücktes kleines Mädchen. Sie ist alles, was ich habe. Ich denke nur nicht gern darüber nach, besonders dann nicht, wenn sie sich wieder einmal in Gefahren stürzt. Die Angst wäre zu groß, dass ich sie verlieren könnte.»
    Carolin schwieg betreten.
    «Denen da drüben scheint es ähnlich zu gehen», fügte Traveen hinzu und deutete auf einen geparkten Wagen in der Nähe. Schon vor Minuten hatte Carolin bemerkt, dass sich auch dorthin ein Paar zurückgezogen hatte – zweifellos die Novaks, die es nicht mehr ertragen hatten, vor dem Bergwerkstor zu warten. Das Innenlicht des Wagens war ausgeschaltet, doch man sah die schwarzen Silhouetten ihrer Köpfe. Zwischen den Fingern der Frau bebte der Lichtpunkt einer Zigarette.
    «Die tun mir wirklich leid», meinte Traveen. «Meine Kleine riskiert ihren Hals wenigstens freiwillig, und ich habe gelernt, damit zu leben – aber diese Leute dort müssen Qualen

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