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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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Dann sprach sie aus, was es auszusprechen galt. Sie wiederholte die Durchsage mehrmals, wartete einige Sekunden, lauschte angespannt dem Konzert der Naturkräfte im Äther. Schließlich schaltete sie ab. Es war unwahrscheinlich, dass ihre Botschaft gehört worden war, aber unter glücklichen Umständen konnte sie eine Erhöhung ihrer Überlebenschancen bedeuten.
    Und wie mochten die stehen?, fragte sich Tia. Fünfzig zu fünfzig? Dreißig zu siebzig?
    Eine plötzliche Hoffnungslosigkeit überfiel sie. Sie hatte es fertiggebracht, die anderen aus der Höhle herauszubringen, auf den Weg zu einem Ausgang, der es ihnen vielleicht erlaubte, nach einigen Stunden das Tageslicht wiederzusehen. Doch für wie lange würden sie es wiedersehen? Für Stunden, Tage, Wochen? Kehrten sie in ihr früheres Leben zurück – oder auf eine Isolierstation, wo ihre letzten Wahrnehmungen grelles Kunstlicht, Infusionsapparate und Ärzte in Schutzanzügen sein würden, die ihre hoffnungsleeren Gesichter hinter Helmvisieren aus bruchsicherem Glas verbargen?
    Leise Schritte näherten sich der Abzweigung, in die sie sich zurückgezogen hatte. Tia erschrak. Sie musste ungewöhnlichtief in Gedanken gewesen sein, da sie das Geräusch nicht schon früher wahrgenommen hatte. Unter normalen Umständen war es unmöglich, sich an sie heranzuschleichen.
    «Tia?»
    Sie brauchte nicht erst Leons Stimme zu hören, denn als er sich um die Ecke tastete, verriet ihn sein Geruch.
    «Hier», antwortete sie, als seine Hände sich suchend in dem engen Durchgang bewegten. «Warum schleichst du mir nach?»
    «Ich wollte nur   …» Er blieb stehen. «Ist jetzt egal. Ich hörte dich funken. Hast du jemanden erreicht?»
    «Nein.»
    Er schwieg eine Weile, und je länger er es tat, desto größer wurde Tias Unbehagen. Sie wusste nicht, wie viel er gehört hatte. Freiwillig jedenfalls würde sie ihren Verdacht niemandem mitteilen – ihm nicht, und erst recht nicht Justin und Dana. Unter den gegebenen Umständen wäre es der größte denkbare Fehler gewesen, die Angst ihrer Begleiter zur Panik zu steigern. Sie musste die Last ihres Wissens allein tragen.
    «Was ist los mit dir?», fragte Leon. «Du atmest so schnell.»
    «Es   … ist nichts», behauptete Tia steif. «Ich wollte es nur noch einmal mit dem Funkgerät versuchen. Es hätte ja sein können   …»
    «Ich dachte, du wolltest den Weg erkunden.»
    «Das auch.»
    «Tia, was ist los?», drang Leon in sie. «Du verheimlichst mir irgendetwas – wahrscheinlich schlechte Neuigkeiten, wie meistens. Was hast du entdeckt? Führt der Weg nicht weiter? Stecken wir in einer Sackgasse?»
    «Nein, nein», versicherte Tia rasch. «Keine Sorge.»
    «Was ist es dann?»
    Nichts,
wollte Tia wiederholen, doch das Wort blieb ihr in der Kehle stecken, die plötzlich eng wurde.
    «Nun sag schon!», drängte Leon, wobei er unwillkürlich näher trat. «Wozu diese Heimlichtuerei? Glaubst du wieder einmal, du müsstest alles mit dir alleine ausmachen?»
    «Leon, bitte!»
    «Warum traust du mir nicht zu, die Wahrheit zu verkraften? Weil ich nicht mit deiner Leidensgeschichte konkurrieren kann? Weil ich nicht zwei Stunden mit gebrochenem Schädel in einem zerquetschten Auto festgesteckt habe?»
    «Hör auf!», bat Tia, der plötzlich die Tränen kamen. «Ich fühl mich schon mies genug.»
    Instinktiv wandte sie das Gesicht ab, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Die ganze Anspannung der letzten Stunden brach sich Bahn und ließ plötzlich ihre Tränen fließen. In der Totenstille empfand sie ihr eigenes Schluchzen als doppelt entwürdigend. Tia weinte selten – sehr selten. Wenn, dann weil sie sich hilflos fühlte, was trotz ihrer Blindheit eine seltene Ausnahme war. Sie hatte sich daran gewöhnt, immer den richtigen Weg zu finden, andere zu führen und sie zu ermutigen, selbst wenn wenig Hoffnung bestand. Nun jedoch fühlte sie die Verantwortung wie eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern.
    Leon schwieg. Tia wusste, dass er nur eine Handbreit vor ihr in der Dunkelheit stand, doch er rührte keinen Finger. Die Schnelligkeit seines Atems verriet eine seltsame Art beherrschter Erregung, die sie nicht deuten konnte.
    Wenn er mich doch nur in die Arme nehmen würde, dachte Tia. Es fiel ihr schwer, sich diesen Wunsch einzugestehen, denn es nagte an ihrem Selbstbewusstsein, dass ausgerechnet sie, die starke und mutige, sich nach einer Schulter zum Anlehnen sehnte.
    «Also gut.» Leon seufzte resigniert. «Wenn du nicht

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