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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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ziemlich gefährlichen Lebensstil Ihrer Tochter nicht ganz glücklich sind?»
    «Ach   …» Traveen winkte ab. «Hat ja keinen Zweck, ihr Vorschriften zu machen. Tieken ist ein Wildfang, und man darf sie nicht einsperren, sonst leidet sie wie ein Vogel im Käfig. Wenn sie nicht ständig ihren Hals riskiert, ist sie nicht zufrieden – verrücktes Küken.» Er lächelte versonnen. «Ich frage mich oft, von wem sie das hat. Meine Frau sagte immer,
sie
hättegarantiert nichts damit zu tun. Hat sich ein richtiges Mädchen gewünscht, wissen Sie? Eins, das man mit Zöpfen und Schleifchen schmücken kann und das zum Geigenunterricht oder zur Tanzschule geht, statt im Garten Löcher zu buddeln und allein im Wald herumzustreifen.»
    «Das hat Tia getan?»
    «Oh ja. Meine Frau hat immer geschimpft, wenn die Kleine wieder mal völlig verdreckt nach Hause kam. Besonders gern hat sie Steine mitgebracht, um sie zu untersuchen. Aber auch Viehzeug schleppte sie ins Haus, Regenwürmer, Eidechsen, einmal sogar eine Kröte, die sie in einem Marmeladenglas gefangen hatte. Jaja, sie war schon immer eine kleine Naturforscherin. Ich weiß noch: Zu ihrem zehnten Geburtstag wollte meine Frau ihr ein Schminkset schenken, mit Mascara und Lippenstift und so was – aber Tieken hat protestiert, denn sie wünschte sich ein Mikroskop.» Traveen lachte. «Sie wollte lieber in den Mikrokosmos schauen als in den Spiegel. Meine Frau war bitter enttäuscht.»
    «Ihre Frau ist verstorben?», mutmaßte Carolin.
    «Nun sagen Sie bloß, Sie kennen die Geschichte nicht! Ich hab mich schon daran gewöhnt, dass halb Deutschland Bescheid weiß. Jeder Reporter löchert mich danach.»
    «Wären Sie denn so freundlich, es trotzdem noch einmal zu erzählen?»
    «Von mir aus.» Traveen seufzte. «Davon wird’s ja auch nicht schlimmer. Als Tieken zwölf war, fuhr meine Frau mit ihr nach Wuppertal zum Geburtstag ihres Großonkels. Die beiden kamen aber nie dort an. Auf der A1 hat irgendein Verrückter sie beim Überholen geschnitten. Meine Frau versuchte auszuweichen, aber der Wagen kam ins Schleudern und krachte in die Leitplanke. Die flog dann einige Meter hoch in die Luft und kam wieder herunter, genau auf Höhe der Vordersitze   …»
    Traveen unterbrach sich und starrte einen Moment ins Leere. Auch Carolin schwieg. Sie hatte schon über zahlreiche Unfälle berichtet – auch mit Todesopfern   –, doch diesmal ging ihr die Geschichte näher als sonst. Vielleicht lag es an dem trockenen Ton, in dem der Alte sie erzählte und der mehr als jede tränenreiche Klage seinen Schmerz ahnen ließ.
    «Meine Frau war sofort tot», fuhr er schließlich fort. «Bei Tieken lag die Sache komplizierter, im wahrsten Sinn des Wortes: Sie war eingeklemmt, und zwar mit einem Schädelbruch am linken Scheitelbein. Das Rettungsteam musste erst die Leitplanke hochhieven, die quer über dem Auto lag. Zwei Stunden hat es gedauert, bis man sie endlich in den Notarztwagen verfrachten konnte. Acht Tage Koma   … Keiner konnte mir sagen, ob sie überleben würde. Durch die gebrochene Schädeldecke waren Bakterien eingedrungen und hatten eine Gehirnhautentzündung hervorgerufen. Die Ärzte gaben Antibiotika und bereiteten mich darauf vor, dass alles Mögliche passieren könnte: Nervenschäden, Lähmungen, geistige Behinderung   … Sie können sich vorstellen, wie mir zumute war.»
    Carolin nickte beklommen.
    «Am Ende wachte meine Kleine wieder auf», erinnerte sich Traveen. «Und das Erste, was sie mich fragte, war: ‹Papa, warum ist das Licht aus?› Einer der Ärzte erklärte mir später, dass die Entzündung auf eine Stelle im Gehirn übergegriffen hatte, wo sich die Sehnerven kreuzen. Von da an war meine Kleine blind – und blieb es.»
    Carolin starrte auf ihren Notizblock. Die Spitze des Kugelschreibers schwebte einen Fingerbreit über dem Papier. Sie musste sich zur Ordnung rufen, um ihre Professionalität zu wahren und die logische nächste Frage zu stellen.
    «Und wie ging es dann weiter? Offenbar haben Sie ja beide gelernt, damit zu leben.»
    Traveen nickte. «Am Anfang war es schwierig. Als sie nach Hause kam, konnte sie ohne Hilfe das Bad nicht finden, sich kaum selbst anziehen, sich nicht die Schuhe zubinden. Und dabei war sie schon als Kind sehr selbständig gewesen und wollte am liebsten alles allein machen. Es war schlimm für sie, mich ständig rufen zu müssen, und schlimm für mich, sie so hilflos zu sehen. Die Ärzte empfahlen, sie in ein Blindenheim zu stecken

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