Das Geflecht
geschrammt.»
«Es ist nicht mehr weit», versprach Tia. «Noch fünf Meter etwa.»
Als sie das Ende des Tunnels erreichten und sich wieder aufrichten konnten, war Dana einigermaßen stolz auf sich. Sie war weder stecken geblieben noch in Panik ausgebrochen, und selbst das leichte Ziehen in ihrer Schulter fühlte sich erträglich an. Unter gewöhnlichen Umständen wäre sie vor Sorge um das verletzte Gelenk panisch vor Angst gewesen und hätte sich geweigert, es zu belasten.
Erstaunt stellte sie fest, dass eine seltsame Veränderung mit ihr vor sich gegangen war. Normalerweise gehörte Dana zu den Menschen, die bei jeder Erkältung zum Arzt gingen, aus Angst, es könnte eine Lungenentzündung daraus werden. Sie hatte Angst, sich auf dem Schulklo Salmonellen zu holen, bei Glatteis vor die Tür zu gehen oder sich die Beine zu brechen, wenn sie Schuhe mit hohen Absätzen trug. Sie hatte auch Angst, wenn sie auf dem Beifahrersitz eines Autos saß und die Tachonadel über hundert kletterte. Ständig malte sie sich aus, was ihr zustoßen könnte, welche Risiken drohten und was die schlimmsten denkbaren Folgen wären. Im tiefsten Innern wusste sie, dass sie diese Eigenart ihrer Mutter verdankte, die sie von frühester Kindheit an ständig vor den Gefahren der Welt gewarnt hatte. In den vergangenen Stunden war ihr das zunehmend bewusst geworden, zumal ihr Leben inzwischen konkreteren Gefahren ausgesetzt war als den Bakterien an einer Türklinke. Dana liebte ihre Mutter darum nicht weniger: Sie war die ängstliche Mutter, die draußen auf sie wartete. Hier unten jedoch war Dana auf Tia angewiesen – auch eine Art Mutter, aber eine viel mutigere, der es gelungen war, auch in ihr Mut zu wecken.
«Abtasten!», befahl Tia. «Gesicht und Hände kontrollieren, Pilzfäden wegwischen. Justin, haben Sie sich verletzt?»
«Ich sagte doch, es ist nichts», wehrte Justin ab.
«Dana, wie geht es Ihrer Schulter?»
«Ganz gut», sagte Dana wahrheitsgemäß.
«Dann weiter!»
Sie tasteten sich einige Zeit durch eine relativ geräumige Höhle, stiegen über Felsstufen und umrundeten steinerne Höcker, die aus dem Boden aufragten. Schließlich gebot Tia Halt und ging ein paar Schritte voraus. Aus der Dunkelheit drang das leise Klicken ihrer Zungenlaute. Wasser platschte unter einer Stiefelsohle.
«Was ist los?», fragte Leon, als sie zurückkehrte.
«Wir haben ein Problem», sagte Tia ungewöhnlich ernst. «Wir sind in einer Sackgasse. Dort drüben mündet ein enger Schacht, der senkrecht nach oben führt. Die Pilzranken wachsen an den Wänden hinauf.»
«Dann führt er vielleicht an die Oberfläche!»
«Ich bin nicht sicher.» Tia schwieg einen Moment. «Jedenfalls kann ich dort keine Luftströmung feststellen. Warum der Pilz diesen Weg gewählt hat, ist mir ein Rätsel. Jedenfalls können wir unmöglich zu viert einen senkrechten Schacht ersteigen. Wir müssten mit Steigklemmen klettern – und das verlangt jahrelange Übung.»
«Ausgeschlossen», stimmte Leon zu. «Gibt es eine Alternative?»
«Möglicherweise. Direkt vor uns befindet sich ein Durchbruch zu einem benachbarten Hohlraum. Er ist viel zu eng, um durchquert zu werden, kaum dreißig Zentimeter im Durchmesser – aber ich konnte die Hand hindurchstecken und deutlich einen Luftstrom spüren. Wahrscheinlich ist
das
der Weg nach draußen.»
«Aber was nützt uns das, wenn wir nicht durchkönnen?», fragte Justin.
«Wir
könnten
hindurch. Am Fuß der Wand liegt ein kleiner See …»
«Ein Syphon?», fragte Leon.
Danas Herz sank. Sie kannte das Wort zwar nicht, doch der erschrockene Ton, in dem Leon es aussprach, ließ nichts Gutes ahnen.
«Soweit ich tasten konnte, gibt es einen größeren Durchlass unter der Wasseroberfläche», erklärte Tia. «Und das heißt …»
«Dass wir
tauchen
müssen?», erriet Dana entsetzt.
«Ich fürchte ja.»
«Tia, das kommt nicht in Frage!», sagte Leon entgeistert. «Das Wasser hier unten hat höchstens fünf Grad. Selbst wenn wir es auf die andere Seite schaffen, werden wir erfrieren, wenn wir in nassen Kleidern weiterlaufen. Wir haben keine Ahnung, wie weit es bis zum Ausgang ist. Binnen einer Stunde könnten wir alle tot sein!»
«Das könnten wir in jedem Fall», gab Tia zu bedenken. «Aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Ich gebe dir recht, was unsere Kleidung betrifft: Sie darf auf keinen Fall nass werden. Also bleibt uns nur, sie auszuziehen und durch die Wandöffnung auf die andere Seite zu schieben.
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