Das Geflecht
Öffnung.»
«Aber wenn wir es heraushebeln, müsste man hineinkriechen können», sagte Böttcher, richtete sich auf und spuckte in die Hände. «Gib mir die Hacke und halt die Lampe!»
Bringshaus tat wie geheißen. Eigentlich hielt er den Versuch, das Gitter auszugraben, für nicht sehr aussichtsreich, doch die Tatkraft seines Komplizen steckte ihn an. Mit zwiespältigen Gefühlen sah er zu, wie Böttcher die Hacke schwang, dem Beton einige Risse zufügte, dann ein ansehnliches Loch und schließlich regelrechte Krater, von deren Rändern ganze Stücke abplatzten. Die erstaunliche Körperkraft des Mannes ließ ihn schaudern.
Kein Zweifel, dass er auch jemandem den Schädel einschlagen könnte, dachte er unwillkürlich.
Als das Gitter bei jedem Schlag deutlich vibrierte, hakte Böttcher die Hacke zwischen zwei Stangen und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Griff. Knirschend brach die rostige Konstruktion aus ihrer Verankerung und fiel ins Gras.
«Na bitte!», keuchte er mit hochrotem Kopf. «Da hast du deinen Nebenstollen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo er hinführt.»
Bringshaus beugte sich vor und leuchtete abermals hinab. Nun war deutlich ein Gang zu erkennen, der in rechtem Winkel zur Steilwand ins Erdreich hineinführte. Den Boden bedeckte ein muffig riechender Mulch aus verwehten Kiefernnadeln und getrocknetem Tierkot.
«Ich weiß nicht … Eigentlich kann es nicht der Ausgang sein, von dem die Traveen gesprochen hat. Die Richtung stimmt nicht.»
«Das werden wir ja sehen», meinte Böttcher und machte Anstalten, sich mit den Füßen voran durch die kniehohe Öffnung zu schieben.
«Vorsicht!», warnte Bringshaus. «Der Boden da drin liegt einen guten Meter tiefer. Es wird nicht leicht sein, wieder herauszuklettern. Wenn etwas schiefgeht, gibt es am Ende noch zwei weitere Vermisste.»
«Das Risiko müssen wir eingehen», sagte Böttcher. «Komm schon, Jörn! Wir sind gut gerüstet: Wir haben Helme, wir haben Lampen, und wir haben eine Spitzhacke. Vergiss nicht, dass dies möglicherweise der Weg ist, auf dem uns dein Sohn entgegenkommt.»
Bringshaus dachte an Justin – irgendwo in der Tiefe unter dem Berg, durch lichtlose Spalten kriechend, frierend und verängstigt,nur unter der Führung einer blinden Frau. Böttcher hatte recht: In diesen Stollen zu steigen erforderte vergleichsweise wenig Mut und war das Mindeste, was man von einem Vater erwarten durfte, dessen Sohn vermisst wurde.
«Also gut. Versuchen wir’s.»
••• 02 : 05 ••• DANA •••
«Bereit zum Aufbruch?», fragte Tia, als sie zusammen mit Leon in die Seitenkammer zurückkehrte.
Dana, die sich unter der langsam auskühlenden Heizdecke eng an Justin geschmiegt hatte, seufzte ergeben. «Es muss wohl sein.»
«Ja», bestätigte Tia. «Weitergehen ist auf jeden Fall weniger gefährlich, als sitzenzubleiben und wieder auszukühlen.»
Dana fühlte, wie Justin stumm ihre Hand drückte, und erhob sich.
Als sie mit seiner Hilfe den Ausstieg der Kammer überwand und in die angrenzende Höhle kletterte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Ruhepause ihr gutgetan hatte. Die Wärme war tief durch ihre klamme Haut gedrungen, hatte ihre Muskeln entkrampft und ihren Mut gestärkt. Sie versuchte sich das Gefühl in Erinnerung zu rufen, als Tia sie in den Armen gehalten hatte. Es war seltsam gewesen, den Körper dieser fremden Frau zu spüren: Sie fühlte sich so ganz anders an als Danas Mutter, die – wie Dana selbst – weich und üppig gebaut war. Tia dagegen war schlank und kräftig, doch ihre warme Haut und ihr fester Griff hatten eigenartig beruhigend gewirkt.
Die Dunkelheit empfand Dana als nicht weniger bedrückend als zuvor, doch hatten sich die schrecklichen Vorstellungen verflüchtigt, von denen sie bislang geplagt worden war: Visionen von Händen, die aus dem Nichts nach ihr griffen, von schleimigen, vielbeinigen Monstrositäten, die in unsichtbaren Winkeln kauerten, von bösartigen, fleischfressenden Gewächsen, die sie mit ihren Tentakeln umschlangen. Selbst die Entzündung an ihrem Schienbein schien zurückgegangen zu sein und schmerzte weniger. Dana bemühte sich, nicht an die infizierte Stelle zu denken oder sich auszumalen, welchen Anblick sie im Tageslicht bieten mochte. Es war im Grunde nicht anders als mit einem schmerzenden Pickel: Man musste sich zwingen, nicht daran herumzudrücken, und sich zur Ordnung rufen, wenn die Finger sich unbewusst dorthin
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