Das Geflecht
gewesen und mit keiner früheren Erfahrung vergleichbar. Justin stand, nicht ganz zu Unrecht, im Ruf eines Frauenhelden und hatte sein Ziel stets in kürzester Zeit erreicht. Diesmal jedoch war es ihm nicht auf Eile angekommen. Danas offenkundige Verletzlichkeit hatte ungewohnt tiefe Regungen in ihm geweckt, Gefühle von zurückhaltender Zärtlichkeit und genießerischer Geduld. Selbst als sie – gegen vier Uhr morgens – endlich im Bett gelandet waren, hatte er sie anfangs nur im Arm gehalten, in ihre wundervollen grünen Augen geblickt und vor lauter Ergriffenheit kaum gewagt, sich zu bewegen.
Vor dem Hintergrund dieses Erlebnisses traf ihn die sarkastische Bemerkung seiner Mutter wie ein Schwall eisigen Wassers. Die flammende Verteidigungsrede, die ihm bereits auf der Zunge lag, schluckte er hinunter. Indem er schwieg, stand er treuer zu Dana, als wenn er sich auf Diskussionen eingelassen hätte.
Doch der Ärger schwelte in ihm. Er brauchte keine Ratschläge, schon gar nicht von einer Frau, die mit jemandem wieOnkel Stronzo zusammenlebte. Stronzo, das war der Name, den sein Vater dem neuen Freund seiner Mutter gegeben hatte. Soweit Justin begriffen hatte, war das italienisch und bedeutete schlicht «Arschloch». Eigentlich hieß der Mann Thomas Strunz. «Onkel Tom» wollte er von Justin genannt werden – doch Justin hütete sich, ihm diesen Gefallen zu tun. Er mochte diesen Kerl nicht, der eine luxuriöse Villa bewohnte, seine Mutter in teure Restaurants ausführte und seinen Vater unglücklich gemacht hatte. Seine Besuche bei den beiden sah er als lästige Pflichtübung und war meistens froh, wenn sie vorbei waren.
Am folgenden Abend, als die beiden in die Oper gingen, gönnte sich Justin eine kleine Retourkutsche – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Architekt Strunz wurde von Geschäftsfreunden chauffiert und hatte seinen BMW zu Hause gelassen. Sobald Justin allein war, griff er sich den Autoschlüssel, schlich in die Garage und setzte sich in den Wagen.
Justin war schon mehrmals heimlich mit dem Fiesta seines Vaters gefahren, freilich nur in der Dreißig-Zone der heimischen Vorstadt. Nun aber saß er am Steuer eines Oberklassewagens mit Dreihundert-P S-Dieselmotor . Dieses Auto auf eine Spritztour zu entführen bereitete ihm besondere Genugtuung, denn es war der ganze Stolz von Onkel Stronzo – dem Mann, der Justins Familie entzweit und ihm seine Mutter entfremdet hatte.
Tatsächlich bekam er den Wagen in Gang, bewältigte rasch den Umgang mit dem Automatikgetriebe und kurvte in mäßigem Tempo quer durch die Wohnsiedlung. Mit klopfendem Herzen drehte er drei Runden, bei der vierten jedoch ermutigte ihn die spätabendlich leergefegte Straße, das Gaspedal durchzutreten und die Kraft des Motors zu spüren. Der Wagen schoss geradeaus, als plötzlich im Lichtkegel der Scheinwerfer eine Frau auftauchte, die mit einem kleinen Mädchen an der Hand die Straße überquerte. Justin gelang es in letzter Sekunde, ineinem scharfen Bogen auszuweichen, wobei die Räder über den Bordstein schrammten. Die Frau war stocksteif stehengeblieben und hatte das Kind an sich gerissen, ihr Gesicht eine Maske des Entsetzens. Sie starrte Justin nach, während er Gas gab und fluchtartig um die nächste Ecke bog.
Als er Onkel Stronzos Haus erreichte, den Wagen in die Auffahrt bugsierte und ausstieg, zitterten Justin die Knie. Dabei dachte er gar nicht daran, was geschehen würde, wenn die Frau sich das Kennzeichen gemerkt hatte. Nur eines konnte er denken: Mein Gott, ich hätte fast diese Frau überfahren, und das kleine Mädchen dazu … sie hätten tot sein können.
Schrecken und Reue überkamen ihn, und er kanalisierte beides, indem er sich besondere Mühe gab, alle Spuren seines Ausflugs zu verwischen. Als seine Mutter und ihr Freund zurückkehrten, blieb er in seinem Zimmer und ließ hörbar den Fernseher laufen. Bis zum folgenden Morgen schlief er kaum und verblüffte die beiden damit, dass er den Frühstückstisch deckte und betont freundlich mit Onkel Tom umging, als könne er damit die Geschehnisse des Vorabends aus seinem Gewissen löschen.
Seit jenem Tag war er nie wieder heimlich Auto gefahren – und außerdem hatte er sich geschworen, keine unvernünftigen Risiken mehr einzugehen, jedenfalls nicht, wenn Gefahr für andere bestand. Sein guter Vorsatz hatte eine Weile gehalten, allerdings nicht sehr lange. Zwar hatte er kein Steuerrad mehr angerührt, aber als die Schulabschlussfeier näher
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