Das Geflecht
gerückt war, hatte der Gedanke von der Abenteuerparty im Bergwerk Gestalt angenommen und war genauso unwiderstehlich geworden wie das Schwarzfahren im Zug oder das nächtliche Einbrechen ins Schwimmbad.
Dana … ich habe sie in tödliche Gefahr gebracht.
Der Gedanke brachte Justin erneut in die Gegenwart zurück. Seine Erinnerungen zerflossen in der Dunkelheit, die kein Hintergrund eines Traums, sondern die tatsächliche Abwesenheit von Licht im Innern einer Höhle war. Dana war an seiner Seite.
«Bist du noch bei mir?», raunte sie ihm zu. «Justin, hörst du mich?»
Er antwortete mit einem schwachen Druck seiner Hand und bemühte sich, die Kontrolle über seine Zunge wiederzugewinnen, die sich wie ein unförmiger Kloß in seinem Mund anfühlte.
«Ja», brachte er mühsam hervor.
••• 04 : 28 ••• TIA •••
Eine halbe Stunde war vergangen, seit die vier den Raum mit dem Syphon verlassen hatten. Wie zuvor waren sie der Luftströmung gefolgt, die Tia immer deutlicher auf ihrem Gesicht spürte. Allerdings kamen sie nur langsam voran, was vor allem daran lag, dass Justin seine Füße wie ein Schlafwandler setzte und bei jedem Schritt gestützt werden musste. Dennoch war Tia zufrieden, denn weder Hindernisse noch Abzweigungen erschwerten den Weg. Er führte mit zunehmender Steigung durch eine ganze Flucht blasenförmiger Hohlräume.
Gut … wird Zeit, dass wir aufwärts gehen, dachte Tia. Es war also die richtige Entscheidung gewesen, durch den Syphon zu schwimmen.
Dass sie vor Kälte beinahe umgekommen war, hatte sie schon fast vergessen. Ihre Körpertemperatur hatte sich rasch normalisiert, nachdem sie ihre Kleidung wieder angelegt hatte. Selbst ihr Haar war inzwischen trocken. Auch Leon hatte sicherholt, wenngleich sein verletztes Bein ihm zu schaffen machte, sodass er kaum schneller vorankam als Justin und Dana.
Der Boden begann in stärkerem Winkel anzusteigen. Aufrechtes Gehen war nun zu gefährlich, also wies Tia ihre Gefährten an, sich auf Hände und Knie niederzulassen. Glücklicherweise war das Gestein terrassenförmig gestuft und bot genügend Halt. Am oberen Ende des treppenartigen Schachts erwies sich der Boden als eben und gut begehbar. Tia richtete sich auf und wandte das Gesicht nach oben – und so erschrak sie heftig, als sie mit der rechten Ferse auf festem Boden aufsetzte, der vordere Teil ihrer Fußsohle jedoch ins Leere knickte.
«Verflixt!»
«Was ist los?», fragte Leon.
«Zurückbleiben!», befahl Tia. «Hier geht’s ziemlich steil abwärts.»
Das war noch gelinde ausgedrückt. Als sie in die Knie ging, die Felsklippe betastete und sich durch ausgiebiges Zungenschnalzen ein Bild machte, sank ihr der Mut.
Bitte … nein! Nicht so kurz vor dem Ziel!
Ein Abgrund von nahezu vier Meter Breite unterbrach den Weg, mit glatten, senkrechten Wänden und unabschätzbar tief. Kein Felsvorsprung, keine natürliche Brücke, kein seitlicher Sims erlaubte eine Überquerung. Von der anderen Seite wehte frische Luft herüber und bewies die Nähe der Erdoberfläche: Es roch nach Gras und feuchter Erde. Tia hatte den richtigen Weg gewählt – doch er war ihnen verwehrt.
Und was jetzt?, fragte sich Tia. Hinüberspringen war ausgeschlossen. Das hätte wohl nur ein Athlet fertiggebracht – vorausgesetzt, er hätte sehen können, wo er landete. Keiner von ihnen würde das schaffen, schon gar nicht Leon mit seinem verletzten Bein, zu schweigen von Justin, der sich kaum auf den Füßen halten konnte. Nicht einmal Tia selbst hätte es gewagt.
«Was ist das Problem?», fragte Leon, der an ihre Seite getreten war.
Tia seufzte. «Das Problem ist ein vier Meter breiter Abgrund.»
«Oh nein. Und was machen wir jetzt?»
«Keine Ahnung.»
«Dann müssen wir wohl umkehren.»
«Und wohin? Seit wir durch den Syphon getaucht sind, lagen keine Abzweigungen mehr am Weg. Wir müssen über diesen Abgrund, es gibt keine Alternative.»
«Immerhin haben wir noch das Kletterseil», sagte Leon. «Wenn wir es zu einem Lasso binden und hinüberwerfen, können wir es vielleicht irgendwo verankern …»
«Und dann? Willst du auf dem Seil zur anderen Seite balancieren – freihändig und im Stockdunkeln?»
«Aber Sie haben doch sicher irgendeine Idee, oder?», meldete sich Dana zu Wort, die dem Gespräch angespannt gelauscht hatte. «Ihnen fällt doch immer etwas ein!»
Kein angenehmes Gefühl, immer die Heldin zu sein, dachte Tia resigniert. Wie war das noch? Die Anforderungen
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