Das Geflecht
zum nächsten Haltepunkt. Mit Mühe verdrängte sie den Gedanken, was geschehen würde, wenn ihr Körper der Belastung nicht mehr gewachsen wäre.
Wenn du loslässt, bist du tot.
Sie erreichte den vorletzten Keil und hörte, wie Leon sich zum Rand des Abgrunds vortastete, um ihr entgegenzukommen.
«Wo bist du?», rief er. «Mach irgendein Geräusch!»
Tia sah sich außerstande, die Kraft für den letzten Umgriff aufzubringen. Es war, als wären ihre Muskeln eingefroren. Sie wollte schreien, doch ihr Atem reichte nur noch für ein schwaches Ächzen. In ihrer Not stieß sie die Hacken gegeneinander, sodass ihre Stiefel ein hörbares Klappern von sich gaben.
Eine Hand tastete über ihre frei hängenden Schienbeine. Leon packte ihre Hüften und zog sie an sich. Sie ließ sich fallen, sackte in seinen Armen zusammen und presste für eine Weile das Gesicht gegen seine Brust.
«Geht es Ihnen gut?», flüsterte Dana. Ihre Stimme klang zittrig. Tia ahnte, dass das Mädchen ebenso große Angst ausgestanden hatte wie sie selbst.
«Alles in Ordnung», antwortete sie, als ihr Atem sich beruhigt hatte, und löste sich von Leon. Dann ergriff sie beide Enden des Seils und knotete sie fest zusammen. «Ich werde mich jetztauf die andere Seite schwingen. Dort mache ich den Knoten wieder auf und versuche, das eine Ende des Seils irgendwo festzubinden. Das gibt uns zusätzliche Sicherheit für den Fall, dass der Klemmkeil versagt.»
«Kann das passieren?», fragte Dana ängstlich.
«Nur eine Vorsichtsmaßnahme», erklärte Tia. «Und dann schwingen wir uns einer nach dem anderen hinüber.»
«Das dürfte schwierig werden», meinte Leon, «besonders für Justin. Er kann sich ja kaum aufrecht halten.»
«Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Wir werden es so machen: Ich lasse meinen Klettergurt hier, und sobald ich drüben bin, ziehst du Justin den Gurt an und befestigst ihn am Seil. Er braucht sich also nicht einmal festzuhalten. Du gibst ihm einfach einen ordentlichen Schubs, sodass er über den Abgrund segelt, und ich fange ihn drüben auf. Mit Dana machen wir es genauso. Macht es dir etwas aus, wenn du als Letzter zu uns herüberkommst?»
«Schon in Ordnung», sagte Leon stoisch. «Wie willst du uns auffangen, ohne uns zu sehen?»
«Ihr müsst laut summen, wenn ihr am Seil hängt, dann kann ich euch nach dem Geräusch orten. Oder am besten schreien …»
«Nichts leichter als das», sagte Dana mit einem ungewohnten Anflug von Galgenhumor. «Ich glaube, ich schreie sowieso, wenn ich einfach ins Nichts geworfen werde.»
••• 04 : 46 ••• JUSTIN •••
Justin nahm wenig von alldem wahr. Als die Gruppe angehalten hatte, war er gegen eine unsichtbare Wand in seinem Rücken gesunken. Nun, da er seine Füße nicht mehr gebrauchen musste, schien es ihm, als zöge ein schweres Gewicht ihn unwiderstehlich in die Knie. Er spürte kaum, dass er an der Wand hinabglitt und am Boden in einer halb sitzenden, halb liegenden Haltung zusammensackte.
Wo war Dana? Er vermisste ihre Wärme, ihre Berührung an seiner Seite. Vage wurde ihm bewusst, dass sie ein paar Schritte entfernt stand und mit den anderen redete – jenen anderen, die er nie gesehen hatte, die nichts als Stimmen in der Dunkelheit waren und an die er sich plötzlich kaum noch erinnerte. Selbst ihre Namen wollten ihm nicht mehr einfallen.
Was ist nur los mit mir?, dachte er benommen.
«Justin, kommen Sie zu sich!», durchbrach eine männliche Stimme seine Trance. «Stehen Sie auf, wir müssen Ihnen das hier anziehen.»
«Stütz dich auf mich!» Das war Dana. Sie half ihm in die Höhe, woraufhin der Mann ihm eine Art Gürtel um die Hüften legte und einen Riemen über seine Schulter zog.
Leon, erinnerte er sich. Sein Name ist Leon … und wir sind immer noch in dieser verfluchten Höhle.
«Ich schwinge Sie jetzt über den Abgrund», kündigte Leon an. «Keine Angst – Sie hängen sicher in diesem Gurt. Stellen Sie sich einfach vor, Sie sitzen auf einer Schaukel, und ich gebe Ihnen Schwung. Tia fängt Sie drüben auf.»
Diese verfluchte Höhle, dachte Justin. Es war ganz allein seine Schuld, dass sie hier waren … dass Dana hier war … Und alles nur, weil er einfach kein Gefühl für das Risiko gehabt hatte, genau wie damals mit Stronzos BMW. Warum nur warer immer so leichtsinnig? Musste es erst jemanden das Leben kosten?
Er wurde vorwärts gezogen, stolperte, fing sich mühsam. Leon klinkte einen Haken in seinen Gürtel,
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