Das gefrorene Licht. Island-Krimi
enttäuscht, wie er ohne ein Wort zu sagen oder etwas zu fragen an ihnen vorbeieilte in sein Büro, wo er sich einschloss, das Telefon nahm und eine Nummer wählte.
Dóra saß in ihrem Zimmer auf der Bettkante. Birnas Kalender lag in ihrem Schoß. Sie schämte sich und war unentschlossen, ob sie ihn wieder in Birnas Zimmer schmuggeln oder an einem anderen Ort aufbewahren sollte, wo er keinen Verdacht wecken würde. Auch über den richtigen Zeitpunkt zerbrach sie sich den Kopf: sofort oder erst, wenn sie ihn durchgeblättert hatte? Röte schoss Dóra in die Wangen, als sie daran dachte, dass Birna ebenso gut noch unter den Lebenden weilen konnte. Hatte sie Briefschlitzklienten und andere Querulanten schon so satt, dass sie aufregendere Fälle heraufbeschwor, wo es gar keine gab? Sie war hergekommen, um einem leicht verstörten Hotelbesitzer einen hoffnungslosen Prozess auszureden, nicht um sich in eine polizeiliche Ermittlung einzumischen, die sie nichts anging. Dóras Telefon klingelte, und sie nahm ab, froh, an etwas anderes denken zu können.
»Könntest du mal kurz vorbeikommen?«, fragte Jónas mit schwerverständlicher Stimme. »Es ist was passiert. Ich habe das Gefühl, es hängt mit dem Spuk zusammen.«
»Wie bitte?«, fragte Dóra entgeistert.
»Ich erkläre es dir gleich, aber ich glaube, Birna, die Architektin, ist tot.«
»Ich bin in zehn Minuten bei dir.«
Also doch. Sie blickte von ihrem Telefon zu dem Kalender und entspannte sich. Zumindest hatte sie nicht den Kalender einer lebendigen Frau gestohlen. Dóra schlug das Buch mit ihrem Ärmel auf und blätterte mit dem Daumen die Seiten um. Jedenfalls handelte es sich um einen ungewöhnlichen Kalender. Anstatt vereinzelter Einträge waren die Seiten dicht beschrieben. Es gab etliche Skizzen von Häusern, Gebäuden und Gebäudeteilen. Einige schien Birna sich ausgedacht, andere nach echten Vorlagen gezeichnet zu haben. Offenbar hatte ihr eine Seite pro Tag nicht ausgereicht; die Seiten waren bis weit in den September hinein beschrieben – vier Monate in die Zukunft. Dóra schaute sich die letzten Einträge an, in der Hoffnung, Sätze zu finden wie:
»X am Strand treffen – muss vorsichtig sein.«
Aber vergeblich. Auf der letzten Seite stand
»Bergur Geburtstag – nicht vergessen«, »Überweisung wg. April«
sowie eine ganze Menge Firmennamen, die Dóra nicht kannte. Neben jedem Namen befanden sich eine Telefonnummer, irgendwelche Millimeterangaben und dahinter Kronenbeträge. Am Ende jeder Zeile waren unterschiedliche Reihen von Abkürzungen, die Dóra nicht verstand,
»Schw, Wei, R, Gr, Sil, usw.«
. Darüber stand das unterstrichene Wort:
»Anstrich.«
An der Zeile mit dem niedrigsten Kronenbetrag war ein Häkchen. Anstriche hatten wohl kaum etwas mit dem Tod der Frau zu tun, weshalb Dóra bis zur vorletzten Seite blätterte. Dort befand sich ein Grundriss, der, soweit sie erkennen konnte, das Hotelgelände und den Standort des neuen Gebäudes zeigte. Die wichtigsten Maße und Entfernungen waren notiert, und ein hübsch verzierter Pfeil wies nach Norden. Um die Zeichnung herum hatte Birna Notizen gemacht, von denen die meisten Geländeneigung und Lichtverhältnisse betrafen. Eine Anmerkung weckte Dóras Interesse:
»Was ist mit dieser Stelle??? Alte Pläne???«.
Etwas weiter unten stand mit einem anderen Stift
»Kofen«.
Hinter dem Wort waren ebenfalls drei Fragezeichen. Das brachte sie auch nicht weiter.
Auch wenn Dóra den Kalender am liebsten ganz durchgesehen hätte, musste sie sich beeilen, zu Jónas zu kommen. Trotzdem blätterte sie weiter vor bis zu einer Skizze mit einem Gebäudegrundriss: zwei gleich große Vierecke nebeneinander, in Zimmer unterteilt. An derselben Stelle war jeweils eine Treppe eingezeichnet. Eindeutig ein Haus mit zwei Etagen. Die Zimmer waren beschriftet: Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Bad und so weiter. Am Rand standen allerlei Notizen, beispielsweise
»Baujahr 1920 ?«, »Feuchtigkeit an Außenwand SZ «, »Fundament?«
. Eine Frage war Birna offenbar sehr wichtig, denn sie hatte sie eingerahmt und die Rahmenlinien mehrmals übermalt:
»Wer war Kristín?«
Dóra musterte den Grundriss näher. Drei Zimmer in der oberen Etage waren mit
»Schlafzimmer«
gekennzeichnet, aber in einem stand mit kleineren Buchstaben darunter
»Kristín?«.
Dóra suchte nach einem Hinweis, ob der Grundriss von einem Haus aus der Nachbarschaft stammte, fand aber nichts. Oben auf der Seite stand
Weitere Kostenlose Bücher