Das gefrorene Licht. Island-Krimi
mit diesem Haus oder dem Grundstück zu tun hat«, meinte Dóra und pflückte gedankenversunken einen Grashalm.
»Warum glaubst du das?«, fragte Matthias. Er trank einen Schluck Kaffee. Sie saßen in Liegestühlen auf der Wiese hinter dem Hotel und genossen die Aussicht auf die Faxaflói-Bucht. »Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass das Motiv mit der Gegenwart zu tun hat; Liebe, Geld, Geisteskrankheit. Vielleicht war der Mörder ja auch ein völlig Unbekannter, vielleicht hat er eine einsame Frau herumspazieren sehen und die Beherrschung verloren.«
Dóra steckte sich den Grashalm zwischen die Lippen. »Die SMS deutet aber auf etwas anderes hin.« Sie kaute auf dem Halm herum und fügte dann hinzu: »Ich spüre es einfach, dass die Sache irgendwie mit dem Hotel zusammenhängt. Es ist etwas an diesem Haus. Und dann der Kalender. Kein Wort über Geld oder Liebe. Birna schien ganz von ihrer Arbeit eingenommen zu sein.«
»Könnte es nicht nur ein beruflicher Kalender sein? Vielleicht hatte sie zusätzlich noch einen privaten?« Matthias beobachtete, wie sich der Grashalm in Dóras Mund auf und ab bewegte. »Ich wusste nicht, dass Isländerinnen Wiederkäuer sind.« Er schnitt eine Grimasse. »Schmeckt's?«
»Versuch’s mal. Man kann klarer denken.« Dóra pflückte einen zweiten Grashalm, reichte ihn Matthias und grinste, als er das Gesicht verzog, es aber trotzdem probierte. »In diesem Kalender steht mit Sicherheit etwas, das uns hilft, den Mörder zu finden.« Sie beobachtete, wie Matthias auf dem Grashalm herumkaute. »Macht doch Spaß, oder? Jetzt brauchst du nur noch Gummistiefel, dann bist du ein echter isländischer Bauer.«
»Gummi ist für Autoreifen, Gummibänder und Flummis da.« Matthias nahm den Halm vorsichtig aus dem Mund. »Sollen wir uns den Kalender nochmal anschauen?«
Dóra setzte sich im Liegestuhl auf und verstellte die Rückenlehne. »Vielleicht sollten wir anders anfangen: In dem Buch war eine Zeichnung von dem zweiten Hof hier auf dem Grundstück. Da standen alle möglichen Anmerkungen, die wir vielleicht vor Ort nachvollziehen können.«
Matthias setzte sich ebenfalls auf. »Wie du willst. Ich komme mit und spiele den Leibwächter.« Er blinzelte ihr zu. »Ich hab das Gefühl, deine Nachforschungen könnten dich auf alle möglichen Irrwege führen. Du bist jetzt schon bei einer Verstorbenen eingebrochen, hast ihr Eigentum entwendet und polizeiliche Ermittlungen behindert, indem du Jónas die Möglichkeit gegeben hast, fragwürdige Daten aus seinem Handy zu löschen. Ich kann’s kaum erwarten, wo das alles enden wird.«
»Hier steht
Kristín
und dahinter ein Fragezeichen. Sollen wir da anfangen?« Dóra zeigte auf die Seite mit dem Grundriss des Hauses. Sie standen in einem Zimmer neben dem Flur und hatten die Wahl, entweder die Treppe in die obere Etage zu nehmen oder sich im Erdgeschoss umzuschauen. Dort sollte es laut Grundriss zwei Stuben, eine Küche, eine Vorratskammer, ein Bad und ein Arbeitszimmer geben.
»Sollen wir nicht erst mal hier unten durchgehen?«, schlug Matthias vor und lugte linker Hand durch eine Tür.
»Okay«, sagte Dóra und klappte das Buch zu. Sie bemühte sich nicht mehr, keine Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen, denn abgeben würde sie es sowieso nur, wenn die Lage sich zuspitzte. »Puh, was für ein Mief.« Im Haus hing ein schwer definierbarer Geruch – eine Mischung aus Moder, trockenem Staub und Mottenkugeln. Zumindest war hier jahrzehntelang nicht mehr richtig gelüftet worden. »Igitt«, sagte Dóra und hielt sich die Nase zu.
Matthias atmete tief ein. »An deiner Stelle würde ich versuchen, mich daran zu gewöhnen. Nach einer Weile riechst du’s nicht mehr.« Trotz seiner hochtrabenden Worte rümpfte er gleichzeitig die Nase. »Puh, kann man hier kein Fenster aufmachen?«
Sie gingen in das Zimmer zur Linken, laut Birnas Grundriss das Lesezimmer. Die Türklinke war vorsintflutlich – ein dicker, kurzer Holzgriff, den man fest herunterdrücken musste. Die Tür war ein bisschen verzogen, und Dóra stellte fest, dass moderne Türen wesentlich dicker waren. Sie betrat hinter Matthias den Raum, und sie sahen sich schweigend um. »Hier gibt’s nicht viel zu sehen«, murmelte Matthias, nachdem sie die leeren Regale an den Wänden gemustert und die Schubladen eines großen Schreibtischs unter dem schmutzigen Fenster herausgezogen hatten. Diese waren, bis auf einen uralten Bleistift, ebenso leer wie die Regale. Der Bleistift war mit einem
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