Das gefrorene Licht. Island-Krimi
lachte und strich sich mit der Hand durch seinen adretten Herrenschnitt. »Nein, wir sind nicht miteinander verwandt. Ich habe sie über eine Hilfsorganisation adoptiert.«
»Oh, wie schön.« Dóra nahm einen Schluck, um ihre Erleichterung zu überspielen. »Ich dachte schon, du seist verheiratet oder würdest mit einer Frau zusammenleben. Für Männer in festen Händen hab ich besonders viel übrig. Auf einer Skala von null bis zehn haben sie einen Attraktivitätsgrad von minus zwei.«
»Frauen sind echt komisch«, entgegnete Matthias. »Ich finde dich attraktiv, ob du nun verheiratet bist oder nicht.«
»Dann hast du ja Glück, dass ich geschieden bin«, sagte Dóra und schaute wieder auf das Foto. »Aber sie wohnt nicht bei dir, oder?« Sie konnte sich Matthias wirklich nicht beim Kinderklamottenwaschen vorstellen, geschweige denn beim Frisieren dieser ordentlichen Reihen von dicht geflochtenen Zöpfen an dem kleinen Köpfchen.
»Nein, nein«, antwortete Matthias. »Sie lebt in Ruanda. Ich kenne eine Frau, die in ihrem Dorf für das Rote Kreuz arbeitet. Sie hat mich dazu gebracht.«
»Wie heißt sie?«, fragte Dóra.
»Die Frau oder das Mädchen?«, fragte Matthias zurück.
»Das Mädchen natürlich.«
»Laya.«
»Hübscher Name«, bemerkte Dóra und legte ihre Hand auf seine. »Ich rufe schnell an. Wenn das Essen kommt, breche ich bestimmt abrupt das Gespräch ab.« Sie wählte die Nummer ihres Sohnes. »Hi, Gylfi, wie geht's dir?«
»Bist du im Ausland?«, fragte ihr Sohn verwundert.
»Nein, ich hab von einem Ausländer hier im Hotel ein Handy geliehen, weil ich meins abgeben musste. Wie ist es denn so?«
»Urrgh. Total langweilig. Ich will nach Hause«, maulte Gylfi.
»Aber nicht doch«, entgegnete Dóra fürsorglich. »Es wird schon noch nett werden. Ist Sóley guter Dinge?«
»Sie ist immer guter Dinge, danach musst du gar nicht fragen«, antwortete Gylfi mürrisch. »Aber mich macht das hier echt fertig. Papa ist total phantastisch mit diesem 80 s Sing-Star-Spiel von Sóley, und wenn er noch einmal
Eye of the Tiger
singt, dann bin ich weg. Das ist mein Ernst.«
»Aber Junge«, sagte Dóra, »es dauert ja nicht mehr lange. Lass mich kurz mit Sóley sprechen, Schatz.« Sie traute sich nicht, den Karaoke-Gesang seines Vaters zu verteidigen.
»Ja, aber telefonier nicht so lange mit ihr. Ich muss Sigga anrufen. Eben hat sie das Handy auf ihren Bauch gelegt, und das Baby hat mir eine SMS getreten.«
»Wirklich?« Dóra wunderte sich über gar nichts mehr. »Und was hat es geschrieben?«
»jt«, antwortete Gylfi stolz. Er reichte Sóley ohne weitere Kommentare das Handy, und eine piepsige, niedliche Stimme rief: »Mama, hallo Mama!«
»Hallo, meine Maus«, sagte Dóra. »Ist es schön bei euch?«
»Ja, ja. Prima. Ich freu mich aber trotzdem auf dich. Papa und Gylfi streiten sich die ganze Zeit.«
»Es dauert nicht mehr lange, Liebling. Ich freue mich darauf, euch wiederzusehen. Grüß Papa von mir, wir sehen uns morgen.« Dóra verabschiedete sich. Sie klappte das Handy zu und reichte es Matthias.
»Ich hab kein Wort verstanden«, sagte er und steckte das Handy in seine Jackentasche. »Würdest du nachher auch Isländisch mit mir sprechen? Im Bett?«
»Selbstverständlich, du Blödmann«, antwortete Dóra mit betörender Stimme.
Rósa stand am Herd und kochte auf altbewährte Art Kaffee. Die Handgriffe waren automatisch, und sie ließ ihre Gedanken schweifen. Leider verweilte alles Positive und Schöne nur ein paar Sekunden und wurde dann verdrängt von bedrückenden Gedanken an Dinge, die sich nicht ändern ließen. Sie versuchte, an Stubbur, das Flaschenlämmchen, zu denken, wie eifrig es am Morgen an der Flasche gesaugt hatte, aber das Bild verblasste sofort wieder. Stattdessen drängte sich die Erinnerung an Bergur auf, wie er am vorherigen Abend nach Hause gekommen war, und an seinen Gesichtsausdruck, als er ihr von der Leiche, die er am Strand entdeckt hatte, erzählte. Rósa versuchte, es zu verdrängen, indem sie sich zwang, an den bevorstehenden Besuch ihres Bruders zu denken. Das würde die Stimmung im Haus bestimmt auflockern; er lachte viel, war fröhlich und laut. Das konnten sie brauchen; das Haus war so still, dass Fremde meinen könnten, sie und ihr Mann seien stumm. Spöttisch lachte sie auf. Als ob Fremde zu Besuch kommen würden. Es kamen noch nicht einmal Bekannte. Niemand außer den engsten Verwandten wäre auf die Idee gekommen, vorbeizuschauen.
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