Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Tisch gähnt laut. Und ich tue so, als fielen mir all die Blicke nicht auf. Vor allem da nicht, als Antonie sich jetzt ein wenig vorbeugt und mir genau ins Gesicht schaut. Sie sucht meinen Blick, und erst als ich ihren erwidere, lächelt sie.
»Nett, dass wir uns heute getroffen haben«, meint sie da mit leiser Stimme. »Ich meine, ich bin nicht jeden Tag in der Praxis und dann auch nur im Schichteinsatz. Ist nicht gesagt, dass man mich da immer antrifft. Eine halbe Stunde später, und ich wäre weg gewesen.«
Ich habe für eine einzige Sekunde eine Ahnung, dass sie ein Mensch der Wechselbäder ist. Der lauten Quer-durch- den-Raum-Bestellungen und der leise gesprochenen Freundlichkeiten. Beides ganz und gar ehrlich und wahrhaftig. Wieder dieses warme Fließen in mir. Sie würde einer Marlowe auf jeden Fall Rätsel aufgeben, da wette ich.
Und jetzt fällt es mir auch ein. Das, was ich vorhin nicht wirklich greifen konnte. Als ich elf Jahre alt war, schwärmte ich für den Schlagzeuger der Gruppe The Teens. Das war lange, bevor sich der Begriff Boy group prägte. Für mich waren es einfach fünf fantastisch aussehende Sechzehnjährige, bei denen jedes Mädchen sich die Finger ablecken wollte. Ich kannte alle ihre Lieder, und ihre Texte beflügelten mich, im Englischunterricht besser aufzupassen.
Als ich dann eines schrecklichen Tages in der BRAVO las, dass mein Schwarm, der Schlagzeuger Michael, eine feste Freundin hatte, brach mir das Herz. Ungefähr für zwei Tage war ich am Boden zerschmettert. Aber dann sah ich einen Fernsehauftritt von ihnen und stellte fest, dass der Bassist Alexander wirklich auch nicht zu verachten war. Fortan schwärmte ich für den Single Alexander.
Teenagergefühle scheinen nicht besonders standhaft zu sein, was ihr Ziel angeht.
»Wieso grinst du so?«, unterbricht Antonie mich in meinen Gedanken, und ich zucke ein bisschen zusammen.
Wie sie da so sitzt und aus den Bierdeckeln eine windschiefe Hütte gebaut hat, tut sie mir fast ein bisschen Leid. Sie hat nicht den geringsten Schimmer davon, in welchem Zustand ich mich derzeit befinde. Sie weiß nicht, dass sie hier mit einer tickenden Zeitbombe am Tisch sitzt.
Sie weiß überhaupt gar nichts. Nichts von Michelin und Angela. Nichts von deren lesbischen Freundinnenkreis. Nichts von Emma und dem Chat. Nichts von dem bis zum Rand gefüllten Gefäß in meinem Bauch, das sie mit einem ihrer unergründlich bunten Blicke einfach so umgestoßen hat.
Wenn ich sie vor ein paar Monaten getroffen hätte, vor einem halben Jahr, dann hätten wir jetzt sicher hier lustig plaudernd gesessen und uns zu einem gemeinsamen Spaziergang am Helenenberg verabredet. Und beim Spaziergang hätten wir uns von unseren Freunden erzählt, die ja alle gleich sind, weil eben Männer.
Ja, so wäre es.
Aber seit ein paar Wochen ist in meinem Leben irgendwie etwas ins Ungleichgewicht geraten. Nichts läuft mehr so, wie es früher gelaufen wäre. Ich verabrede mich mit einer charmanten Gedichte-Zitiererin, die durch ihre poetischen Sprüche mein Herz zum Klopfen bringt, und werde dumm stehen gelassen. Und jetzt sitze ich mit einer wildfremden Tierarzthelferin in einem griechischen Restaurant und denke darüber nach, wie weich ihre Hände aussehen.
»Ich dachte grad so darüber nach, wie absurd das Leben manchmal sein kann«, bringe ich endlich heraus und schaffe es sogar noch, dazu ein Lächeln zu Stande zu bringen.
»C’est la vie«, gibt sie grinsend zur Antwort und wippt kokett mit den Augenbrauen. »Das denke ich bestimmt mehrmals täglich.«
»Oh«, sage ich und sehe mich um. »Da fällt mir was ein.« Tatsächlich, da vorn hinter der Eingangstür ist ein Zeitschriftenständer, auf dem auch diverse Prospekte ausliegen. Ich krame in meiner Tasche und hole ein paar Flyer von Angelas Stück heraus.
»Hinweis auf ein Laien-Theaterstück«, erkläre ich Antonie. »Ob ich die wohl gleich hier auslegen kann, was meinst du?«
Sie fragt nicht einmal, sondern greift danach und liest die Überschrift.
»Klar, wieso nicht. Was ist denn das für ein Stück?«
Da überschüttet es mich eiskalt, und ich strecke reflexartig die Hand aus, um das Papier zurückzufordern. Bin ich noch von allen guten Geistern verlassen? Ihr einen Prospekt in die Hand zu drücken, das von einem Theaterstück handelt, in dem sich eine verheiratete, an ihren Rollstuhl gefesselte Frau in ihre Pflegerin verliebt.
Antonie will zunächst meiner auffordernden Geste nachgeben, aber die Bewegung
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