Das Gegenteil von Schokolade - Roman
kurzen Haaren, die wirbelnden Blätter, das alles lässt mich für Momente wieder ganz ruhig werden.
Ich steige in den Wagen, als hätte ich eine einstündige Meditation hinter mir. Deren Wirkung hält allerdings nur an, bis ich zu Hause den Computer hochfahre und mich unter meiner E-Mail-Adresse anmelde.
Denn dann stockt mir der Atem. Mein Postkasten ist überfüllt. So viele Nachrichten. Und alle sind sie von einer Adresse …
Ich öffne die erste.
Es ist ein Gedicht.
Die zweite ebenfalls.
Die dritte …
Sie muss unendlich viele Gedichte kennen, die alle von Liebe und Sehnsucht und der damit manchmal verbundenen Traurigkeit handeln.
Vielleicht dichtet sie selbst. Direkt in ihren Computer hinein.
Manchmal nur wenige Worte, die sich auf meine Netzhaut brennen, schwarz auf weiß.
Nur die Letzte, die sie geschickt hat, heute Nachmittag um kurz nach drei, nur diese Letzte …
Ich wage es einfach nicht. Ich wage es nicht, dir gegenüberzutreten und zu sagen: Hier bin ich. So bin ich. Mit jeder Mail von dir, mit deinen bunten Worten und deinem Witz, deiner Bodenständigkeit, deinem Alles, damit kann ich nicht konkurrieren.
Es tut mir Leid.
Da könnte ich mich echt auf den Boden werfen und kreischen. Die spinnt doch! Sie spinnt doch total! Als ob ich irgendwas Besonderes wäre!
Etwas so Besonderes, dass sie es nicht wagt, sich mir zu nähern und mit mir zu sprechen. Stattdessen schickt sie mir L iebesgedichte, bombardiert mich mit poetischem Schmand. Und das ist genau das, wonach ich mich verzehre. Das ist teuflisch. Denn sie nicht wirklich zu kennen, macht sie zu einem Geheimnis, das mich verführt, es zu lösen. Ich möchte es entdecken, möchte ihm nah kommen.
Aber vielleicht verbirgt sich hinter diesem Rätsel ja gar nichts Besonderes, sondern etwas ganz Alltägliches oder gar etwas Abstoßendes, ein abgekartetes Spiel oder eine schlimme Profilneurose – jedenfalls nicht das, was ich darin zu sehen glaube.
Und ziemlich wahrscheinlich bin auch ich nicht das, was sie in mir zu sehen glaubt.
Wenn sie mir gegenüberstünde, würde ich mich bestimmt nicht trauen, ihr so etwas zu sagen, wie ich es ihr schreibe:
Wonach suchst du? Wem bist du auf der Spur? Wonach sehnst du dich? Und zwar so sehr, dass du es nicht wagst, dich der Realität zu stellen, sondern lieber weiter E-Mails verschickst an ein Gespenst deiner Vorstellung?!
Würde sie mir gegenüberstehen, wäre ich stumm vor Aufregung oder würde floskeln vor Höflichkeit. Ich würde wohl nicht von mir geben, was mir wirklich durch den Kopf geht. Aber hier auf dem Bildschirm, da tue ich es. Vielleicht ist es ja auch das, was mich dazu treibt, ihr immer wieder zu antworten – auch wenn sie den Weg in die Realität nicht findet: Sie bringt mich auf die Art und Weise unserer Kommunikation dazu, ehrlich zu sein. Das ist eine Befreiung. Eine Erlösung von den üblichen Wegen der Annäherung. Die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches.
Ich habe den Computer schon lange geschlossen, als es an der Tür schellt.
Loulou rennt bellend hin, und ich sehe auf die Uhr.
Das muss Katja sein, die vor dem Kinobesuch noch hier vorbeikommt.
Als ich ihr die Tür öffne, sehe ich, dass Katja offenbar der Meinung ist, dass es am heutigen Abend im Kino vor muskelbepackten, gut verdienenden und bindungswilligen Männern nur so wimmeln wird. Sie hat sich so aufgedonnert, dass ich blinzeln muss, als sie an mir vorbei ins Wohnzimmer geht.
Katja wirft mir nur einen Seitenblick zu. »Wie siehst du denn aus?«, überfällt sie mich dann mit reizender Stimme.
Ich schaue an mir herunter.
»Dein Gesicht!«, betont sie. »Ich meine, was machst du für ein Gesicht?« Sie lässt sich aufs Sofa plumpsen, wo sie sogleich von Loulou belagert wird, die auf eine extra Portion Ohrenkraulen hofft.
Ich bin ein bisschen beleidigt.
»Unter einer netten Begrüßung stelle ich mir was anderes vor«, flapse ich deshalb und bleibe in der Tür stehen, als wolle ich gleich die Wohnung verlassen.
»Nun sei nicht so«, meint Katja und klopft neben sich auf das Polster. »War nicht so gemeint. Aber du ziehst ein Gesicht, als sei deine Steuererklärung vom letzten Jahr verloren gegangen. Was ist denn los?«
Für eine einzige Sekunde huscht mein Blick hinüber zum Computer. Dann setze ich mich in Bewegung und nehme neben ihr Platz.
Katja ist mein kurzer Ausbüchser-Blick nicht entgangen, und nun betrachtet sie versonnen meinen Rechner, als gäbe es dort tatsächlich irgendetwas von Belang zu
Weitere Kostenlose Bücher