Das Gegenteil von Schokolade - Roman
sehen.
Ich zögere.
Plötzlich zögere ich.
Heute Morgen konnte ich es kaum erwarten, Michelin alles zu erzählen. Ich hätte den ganzen Tag über nichts anderes reden und nachdenken können.
Aber jetzt zögere ich.
Katja nimmt das Buch auf, das auf dem Couchtisch liegt, wirft einen Blick hinein und seufzt tief auf.
»In letzter Zeit mache ich mir wirklich Sorgen um dich«, murrt sie. »Du bist nicht mehr so wie früher. Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Keine Ahnung, was du meinst«, erwidere ich, obwohl eine dumpfe Ahnung mir im Genick sitzt.
Katja hält das Buch hoch, mit dem Finger an der Stelle, an der ich das Lesezeichen stecken hatte. »Früher hast du Krimis gelesen, keine Liebesgeschichten.«
Mein Blick ruht nun ebenfalls auf dem Buch.
»So was bedeutet doch nicht, dass ein Mensch sich grundlegend geändert hat«, gebe ich mit einem amüsierten Lächeln zu bedenken, das sagen soll, sie nehme hier wohl eine Kleinigkeit ein wenig zu ernst.
Meine Lieblings-Cousine sieht mich aus dem Augenwinkel heraus an und fährt mit der Zungenspitze einmal kurz über die Lippen. Das kenn ich nur zu gut. Sie ringt mit sich, ob sie was sagen soll.
»Spucks aus!«, ermuntere ich sie, bevor sie sich gleich ihren leuchtenden, nass glänzenden Lippenstift ganz abgeschleckt hat.
»Du erzählst nichts mehr«, murmelt sie, kaum verständlich.
Ich schweige.
Natürlich weiß ich, was sie meint.
»Früher hast du mir immer alles erzählt. Aber jetzt … ich habe das Gefühl, dass du mir Dinge absichtlich nicht sagst. Das ist … ein ziemlich blödes Gefühl.«
Eine Erinnerungswolke tut sich auf. Ich tauche hinein in den weißen Nebel.
Katja und ich im Schlafzimmer ihrer Eltern. »Guck mal!«, sagt sie und zeigt mir ein Zehnerpack Kondome. Wir kichern und halten uns die gekreuzten Finger hin. Kein Wort darüber zu sonst irgendwem. Katja und ich auf dem Parkplatz hinter Aldi. Unsere Gesichter fleckig rot vor Aufregung. Unsere Jackentaschen verbergen geklaute Schokoriegel. »So was mach ich nie wieder!«, sagt sie, und ich: »Ich hätte mir fast in die Hose gemacht.« Gekreuzte Finger.
Katja und ich in der Pausenhalle nach der Abiturfeier. »Ich habs gemacht!«, jubelt sie wieder und wieder. »Ich hab ihn geküsst!« Achim Schwiers, Referendar für Deutsch und Englisch. »Aber das bedeutet ja gar nichts«, murmelt sie dann. »Ich meine, er war ja einfach nur geschockt. Und erwidert hat er den Kuss auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Liebe ist doch was anderes …« Unter Tränen gekreuzte Finger.
Wir, die Geheimnisträgerinnen. Die zwei, die alles geteilt haben, so lange sie denken können. So unterschiedlich wie Feuer und Wasser, so unzertrennlich wie Tag und Nacht. Die Wolke lichtet sich. Ich sitze wieder mit Katja auf meinem Sofa. Unsere Gesichter dem Buch zugewandt, das sie immer noch in der Hand hin und her dreht.
Warum habe ich ihr nicht erzählt, was Emma mir wirklich bedeutet?
Warum habe ich ihr verschwiegen, dass ich Antonie getroffen habe?
»Mensch!«, entfährt es mir, und Katja zuckt leicht zusammen. »So was von bescheuert hab ich mich ja selten gefühlt!«
Sie schaut mich verwundert an, vielleicht auch ein bisschen ängstlich. »Keine Ahnung, wieso ich so komisch drauf bin«, fahre ich fort, und das wird bestimmt nicht das Letzte sein, was ich sage. Ich rede und rede. Erzähle ihr die ganze Geschichte. Erzähle ihr von meinen altvertrauten Teenagergefühlen, von dieser bisher unbekannten und doch so eindeutigen Sehnsucht. Ich versuche zu erklären, wieso ich nicht aufhören kann, im Internet eine bestimmte Frau zu treffen, deren ganzes Wesen aus romantischen Gedichten zu bestehen scheint. Und ich spreche mit eindeutig zittriger Stimme vom wilden Flattern im Bauch bei den Visionsbildern von meinen Fingerspitzen an den Schläfen einer weiteren Frau.
Katja sitzt neben mir und hört nur zu.
Ihre große Klappe unter der sommersprossenübersäten Nase rührt sich nicht. Und ich bin heilfroh darum. Denn wenn sie nur eine von ihren flapsigen Bemerkungen einwerfen würde, würde mich das wahrscheinlich völlig aus der Bahn werfen, und ich würde auf der Stelle verstummen.
Doch sie sagt nichts.
Sie sagt sogar dann noch nichts, als ich bereits seit mehreren Minuten geendet habe und auch schweige.
»Schön, dass du mich in aller Ausführlichkeit hast ausreden lassen«, sage ich, sie schief angrinsend.
Katja blinzelt einmal kurz, als müsse sie aus einem Traum zurück in die Realität finden, dann kraust
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