Das Gegenteil von Schokolade - Roman
wie du da auf sie gewartet hast. Und wahrscheinlich hat sie zwar lange dunkle Haare und graue Augen, aber außerdem auch einen Buckel, oder sie ist nur einsfünfundvierzig groß oder sonst irgendwas, weswegen sie von deiner imposanten Figur eingeschüchtert sein könnte«, fantasiert meine Freundin ins Blaue hinein.
Aber ich muss gestehen, dass mir so ein ähnlicher Gedanke auch schon gekommen ist.
»Unglaublich!«, regt Michelin sich gerade auf. »Dich schon zum zweiten Mal zu versetzen und sich dann nicht weiter zu melden als nur mit ’nem einzigen Satz.«
Ich druckse ein bisschen herum. »Na ja, also, um ehrlich zu sein … sie hat mir gestern ein paar Mails geschrieben.«
Michelin spitzt die Ohren.
»Ein paar Mails?«
Ich ordne die Unterlagen für meinen nächsten Auftrag nach den Seitenzahlen.
»Frauke, was meinst du mit ›ein paar Mails‹? Was hat sie dir denn geschrieben?«
»Gedichte. Entschuldigungen. Verzeih mir. Ich kann dir nicht sagen, wieso ich so bin. So was halt.« Wenn ich daran denke, dass ich gestern in einem halbstündigen Rhythmus eine Nachricht von ihr bekam, wird mir ganz sonderbar zu Mute. Wieso tut sie so was? Und lässt mich dann wieder stehen?
»Sind Frauen eigentlich alle so kompliziert?«, platze ich da heraus.
Michelin verbrennt sich die Zunge an einem Schluck Kaffee.
»Was denkst du denn?«, mault sie mich an und fächelt sich Luft in den Mund. »Du bist doch selbst eine. Findest du dich etwa unkompliziert?«
Irgendwie kann ich es gar nicht verhindern. Ich weiß nicht, wieso es passiert. Aber plötzlich habe ich Pipi in den Augen. Und so sehr ich auch blinzele und plinkere, es will einfach nicht verschwinden.
Michelin verzieht ihr Gesicht, als würde ihr etwas weh tun, steht von ihrem Stuhl auf und kommt um den Schreibtisch herum zu mir. Ihre Umarmung ist etwas schüchtern. Wir kennen uns gut, aber es gibt Momente, in denen selbst Menschen des Alltags uns irgendwie ungewohnt erscheinen.
» Frauke, Süße«, murmelt sie jetzt beruhigend und stre icht mir behutsam über den Rücken. »Du bist eine höllisch attraktive Frau. Du wirst ganz sicher nicht lange allein bleiben. Hab nicht so viel Angst, mein Herz.«
Ich halte den Atem an, als sie das sagt. »Glaubst du, dass das der Grund ist, wieso ich so verwirrt bin? Ich habe Angst, allein zu bleiben?« Mir ist gleich noch mehr zum Heulen.
Michelin rückt ein kleines Stückchen von mir ab und schaut mich an, ihre Stirn ist in besorgte Falten gelegt. »Wenn ich ehrlich sein soll, ja, das glaub ich. Aber du kennst doch meine Einstellung dazu …«
Ich unterbreche sie, und mein Lachen klingt nur halb so hölzern, wie ich es vermutet hätte: »Ja, ja, ich weiß: Wenn mir die Liebe begegnen soll, dann wird sie es auch. Egal, welche Umwege ich dafür nehmen muss.«
So lautet nämlich Michelins viel beschworene Theorie. Und die wurde natürlich mit Pauken und Trompeten bestätigt, als sie letztes Jahr erst einmal auf dem Schwof Lena kennen lernen musste, um danach deren Mutter Angela zu begegnen, die sie ohne Lena wahrscheinlich niemals getroffen hätte.
»Genauso ist es«, Michelin nickt zufrieden und fährt mir noch einmal mit der Hand durchs Haar. »Und deswegen kannst du dich jetzt ganz entspannt an die Arbeit machen. Denn egal wer irgendwo für dich bestimmt ist, er wird auf jeden Fall dort warten … er oder … sie.«
Sie sieht mich für eine Sekunde an, als erwarte sie Widerspruch, vielleicht Protest. Aber ich sage nichts. Was sollte ich dazu denn auch sagen?
Als ich um vier meinen Arbeitstag beende, hängt Michelin noch im Internet und recherchiert. Ich murmele einen Gruß und schleiche zur Tür.
»Was ist mit der Verabredung zum Kino heute Abend?«, ruft Michelin mir noch nach.
»Dabei bleibt es. Katja holt mich vorher ab. Wir treffen uns dann mit dir und Jackie um halb acht im Foyer«, werfe ich zurück. Warum sollte sich daran etwas ändern? Schließlich gerät nicht gleich die ganze Welt aus den Angeln, nur weil ich ein bisschen durcheinander bin.
Gott sei Dank bleiben manche Dinge ja so, wie sie immer waren. Der Spaziergang mit Loulou im Wald zum Beispiel hält immer, was er verspricht: dreckverschmierte Hosenbeine, einen grau gefärbten Hund und jede Menge Frischluft, die mein zermürbtes Hirn ein wenig durchpustet.
Ich komme auf den Gedanken, dass das Leben gar nicht so tragisch ist, wie es mir in der letzten Zeit häufig scheint. Der goldene Oktober mit seinem Sonnenschein, der kräftige Wind in meinen
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