Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Michelin mit ihren zwei bis drei gemurmelten Bemerkungen und den unzähligen scheelen Blicken. Immer hatte ich das Gefühl, ich müsste mich rechtfertigen. Aber Aussagen wie Hör auf so zu gucken, als sei ich verknallt und würde es nicht zugeben wollen! oder Ich habe immer auf Männer gestanden, und das wird sich auch jetzt nicht ändern! erschienen mir einfach demütigend. Deswegen habe ich sie mir verkniffen. Schließlich bin ich niemandem Rechenschaft schuldig oder auch nur eine Erklärung. Aber der bloße Gedanke an diese Sätze hat schon ausgereicht. Dieses Flattern im Bauch ist seitdem nicht mehr weggegangen.
Dann kam ein Anruf von Lothar. Er wollte gar nicht viel, und wir sprachen nicht lange. Aber er hatte seine Frühlingstigerstimme. Die hat er sonst nur kurz vor Ostern, wenn selbst bei einem Kuschelmonster wie ihm die Hormone fast aus den Ohren rausschießen. Das beunruhigte mich irgendwie. Ich meine, wir haben schließlich Oktober. Was hat seine Frühlingstigerstimme mitten im Oktober zu suchen – und zudem, wenn wir getrennt sind?!
Und letztendlich konnte ich auch Katja nicht daran hindern, an ihrem freien Tag hier vorbeizuschneien und mir ein paar unangenehme Fragen zu stellen.
Da gab mir die Postkarte, die sie auf der Treppe liegend fand und mit hochbrachte, nur noch den Rest. Meine Mutter. Die mir eine philosophisch anmutende Gedichtkarte schickt, auf der sie sich nach mir erkundigt und mit den Worten schließt: »Ich würde mich so sehr freuen, wenn du mich bald anrufst und mir erzählst, dass du endlich den Richtigen kennen gelernt hast. Mama.«
Wahrscheinlich ist die Kombination kakigrüner Cord und beigefarbener Strickpulli in Ordnung. Ich probiere die Hose noch mal schnell an und dreh mich mit dem Po zum Spiegel, um zu sehen, ob sie noch sitzt. Ich habe etwas abgenommen. Aber es sieht passabel aus. Na, also gut, es sieht klasse aus. Ich hab eben einen süßen Hintern. Bei dem Gedanken muss ich jetzt doch grinsen.
Da erscheint Katja mit dem Nagellackfläschchen wieder im Türrahmen und pustet sich eine Ponyfranse aus dem Gesicht.
»Du-hu«, sagt sie, und ihre Sommersprossen setzen bereits an zu einem echten Veitstanz.
»Hm?«, erwidere ich und betrachte auch meine Front noch einmal in Omas Spiegel. Der erste Eindruck ist hoffentlich gerettet. Jetzt kommt es nur noch drauf an, dass ich das andere auch noch geregelt bekomme …
»Du, was machst du eigentlich, wenn sie versucht, dich zu küssen?«
Sie hatte etwas davon geschrieben, dass man versucht, ungefähr fünf Minuten zu spät zu kommen. Aber ich bin fünf Minuten zu früh da.
Fünf lange, quälende Minuten. Die auch zu zehn noch längeren, geradezu höllischen Minuten werden können, denn sie wird sich wahrscheinlich an die Verspätungs-Regel halten.
Jedenfalls dämmert mir das, als sie nicht pünktlich am Treffpunkt erscheint.
Auf meiner Armbanduhr schleichen die Sekunden im Zuckeltrab dahin. Loulou setzt sich neben mir bequemer hin und glotzt eine Frau mit für ihre sonstige Erscheinung eindeutig viel zu peppigem Lackmantel an. Aber wohl weniger wegen des Lackmantels als wegen des kleines Beutelchens, das aus ihrer Handtasche guckt und auf dem ich gerade noch das Logo des ortsansässigen Metzgers erkennen kann.
Ich glaube, die Frau ist heilfroh, als ihr Bus kommt und sie den gierigen Blicken der Tüpfelhyäne entkommen kann.
Der Bus schließt seine Türen wieder und fährt davon. Ein paar Leute sind ausgestiegen und verlaufen sich aus ihrem Knäuel gerade in verschiedene Richtungen. Eine junge Frau mit Pferdeschwanz bleibt stehen und sieht sich fragend um. Mein Herz. Gott, mein Herz! Als sie sich an mich wendet, explodiert in meinem Bauch ein dutzend Handgranaten.
»Entschuldigung, hast du mal Feuer?«, fragt sie und hält mir ihre Zigarette hin.
Keine grauen Augen.
Ich schüttele den Kopf. Und bin froh. Ja, echt froh. Denn sympathisch ist sie mir nicht. Viel zu aufgebrezelt. Künstlich. Nein. So sieht Emma nicht aus. Wie hatte ich auch nur für einen Augenblick denken können …?
Aber da! Die da kommt! Noch schnell einen Blick in die Schaufensterscheibe tut. Sie beeilt sich. Ihre offene Jacke flattert hinter ihr her. Ihre Haare wehen. Sie sieht mir entgegen. Sie kommt näher. Noch näher. Ich lächele. Das ist sie. Sie kommt noch näher, wird nicht langsamer.
Keine grauen Augen.
Sie ist vorbei.
Langsam füllt sich der Streifen Bürgersteig vor der Bushaltestelle wieder mit Menschen. Die auf den nächsten Bus warten.
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