Das geheime Bild
von Familie umgeben ist. Aber was meinen Sie, wäre es klug, sie aufzufordern, dies vor ihren Klassenkameraden noch ein wenig geheim zu halten? Oder würde dies ihr Leben noch komplizierter machen?«
»Noch komplizierter?« Sofia war verblüfft. »Was meinen Sie damit?«
»Olivia fällt das Schulleben nicht immer leicht.« Ich versuchte, einen sanften Ton anzuschlagen. »Sie hat ein wenig Probleme damit, Freunde zu finden. Doch das Stück hilft ihr.«
»Stück?«
»Sie hat eine Rolle in Hexenjagd übernommen.« Sofia wirkte noch immer verunsichert. »Das ist ein Theaterstück von Arthur Miller. Es ist nur eine kleine Rolle, aber sie ist sehr gut.«
Sofia wirkte jetzt zufrieden. »Ich möchte, dass sie glücklich ist. Und das hat sie mir auch versichert, Olivia würde hier glücklich sein.«
»Sie?«
»Die Freundin, die mir von Letchford erzählt hat. Sie sagte, hier sei es anders als auf anderen Schulen.«
Ich fragte mich, ob die Freundin womöglich eine ehemalige Schülerin war.
»Was meinen Sie, Sofia, wie wird sie reagieren?«, fragte Dad.
»Sie sollte es nicht erfahren.« Sofia verschränkte ihre Arme. »Es ist das Beste, wenn sie nichts weiß.« Sie wirkte bekümmert.
Aber mein Herz sagte mir, dass Olivia wissen musste, dass sie aus anderen Gründen hierhergehörte als die anderen Schüler. Sie gehörte zu den Gärten draußen, die jetzt still und leise ihre triste weiß-graue Winterfarbe annahmen, zum Haus selbst mit seinen alten Steinmauern, zum Bildnis ihrer Großmutter unter dem Wandgemälde. Dieses Haus hatte auch mir Trost gespendet, als ich im vergangenen Sommer angeschlagen hierher zurückgekehrt war. Genauso wäre es für meine Nichte.
»Ansonsten sollten wir sie woanders zur Schule schicken«, ergänzte Sofia.
»Nein.« Dieser Einwand kam so heftig, dass sich beide zu mir umdrehten. »Sorry. Ich habe nur das Gefühl, dass sie sich hier langsam eingewöhnt. Sie sollte bleiben.«
»Dann erzählen wir es ihr also nicht, jedenfalls nicht im Moment?« Sofia verlor einen Moment die Kontrolle über ihr Englisch. Ich sah, wie sie auf ihrem Schoß ihre Hände umklammerte.
»Werden Sie wenigstens noch einmal darüber nachdenken?« Dad klang verzweifelt.
Die Traurigkeit in seiner Stimme schien sie aus ihrer Trance aufzurütteln. »Vielleicht nach der Aufführung des Stücks, vielleicht nach Weihnachten.« Sie klang jetzt ruhiger. »Ich muss erst mit Maria sprechen.«
»Das finde ich einen guten Plan«, stimmte ich zu.
Dad nickte mit enttäuschter Miene.
Sie sah ihn jetzt direkt an, und ihr Ausdruck war viel offener. »Es tat mir sehr leid, das von Mrs. Statton zu erfahren.«
»Danke. Ich vermisse sie fürchterlich.« Es sah Dad gar nicht ähnlich, einer fast völlig Fremden gegenüber zuzugeben, wie verletzlich er war. Aber schließlich gehörte Sofia irgendwie zur erweiterten Familie. Das Telefon läutete. »Das wird vermutlich Clara sein.« Er wirkte schuldbewusst. Mich wunderte, dass meine große Schwester nicht auf der M4 heruntergedüst kam, um an diesem Treffen teilzunehmen.
»Meine ältere Schwester«, erklärte ich.
»Ich muss zurück.« Sofia stand auf.
»Ich kann sie zurückrufen.« Dad warf einen Blick auf das Display.
»Nein, nehmen Sie den Anruf entgegen.«
»Ich begleite Sie hinaus«, sagte ich. Sie nickte Dad zum Abschied zu und gab ihm durch Gesten zu verstehen, er solle das klingelnde Telefon abnehmen.
Als wir durch die Eingangshalle gingen, öffnete sich unten eine Tür, und Emily kam mit einer Handvoll Akten herein. Ein Lehrer hatte sie vermutlich gebeten, diese ins Büro zu bringen, aber ihre Gegenwart gab mir das Gefühl, als wäre ich Samson, wenn er eine Katze entdeckt.
Auch Sofia wich eine Sekunde lang zurück. Emily hatte nach oben geblickt, als sie hörte, wie die Tür von Dads Wohnung aufging. Mit versteinerter Miene sah sie Sofia an. Sie legte die Akten auf dem Konsolentisch neben der Eingangstür ab und ging.
Ich überlegte, Sofia zu fragen, ob sie Emily kannte. Aber da setzten sich sämtliche Puzzleteile zusammen. Natürlich kannte sie sie. Ich hatte die beiden an jenem frühen Morgen vor den Herbstferien gemeinsam in diesem roten Vauxhall sitzen sehen. Es wäre interessant, von Sofia eine Erklärung für diese Beziehung zu bekommen.
»Ich muss jetzt gehen.« Damit kam sie jeder weiteren Diskussion zuvor. »Mrs. Smirnova erwartet mich zur Zubereitung des Abendessens zurück.« Sie zog einen fast schon antik anmutenden Autoschlüssel aus ihrer Tasche. Ich
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