Das geheime Bild
passieren. Ich meine damit das, was passiert ist, bevor er übernahm.«
»Eine Art Veruntreuung?«
»Stimmt genau. Der frühere Schatzmeister, sein Name fällt mir nicht mehr ein, hatte während der Bauarbeiten an den neuen Internatsgebäuden und der Turnhalle getrickst. Ließ sich von den Bauunternehmern schmieren. Und nahm vermutlich Geld aus der Kasse, um die Zulieferer bar zu bezahlen.« Sie unterbrach sich, um einen der Jungs zurechtzuweisen. »Es war ziemlich traurig. Der Schatzmeister hatte ein Baby, das an einer schweren Krankheit oder Behinderung litt, die einer besonderen Behandlung bedurfte. Er wollte das Geld für eine Behandlung in einem Krankenhaus in Amerika verwenden.«
»Und Dad kam dahinter?«
»Er war zutiefst enttäuscht. Offenbar musste er den Schatzmeister rauswerfen. Aber er hat ihn nicht angezeigt.«
»Wurde das Geld denn zurückgezahlt?«
»Ich glaube nicht.«
»Wohin ist die Familie gegangen?«
»Ich glaube, nach Australien. Weiß Gott, wie sie das mit dem Baby geschafft haben.« Etwas knallte zu Boden. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Teller nicht so hoch stapeln, Sam! Ich muss aufhören, Merry, wir sprechen uns bald.«
Die Verbindung zwischen dem, was in der Schule vor so langer Zeit passiert war, und den jüngsten Ereignissen hatte sich tief in mein Unterbewusstsein eingegraben, aber es gelang mir nicht, die Informationen zu aktivieren, um alles logisch zu untersuchen. Ich musste das durchsprechen, was ich wusste. Und dazu benötigte ich die völlig rationale Perspektive meines Ehemanns. Sein Geist war für Rätsel dieser Art wie geschaffen. Ich hatte mein Mobiltelefon noch in der Hand. Mein Daumen drückte seine Nummer, bevor mein Kopf ihn daran hindern konnte.
»Merry?« Klang er entrüstet oder einfach nur überrascht?, fragte ich mich.
»Hast du ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Schieß los.« Er wirkte zurückhaltend.
»Mich beschäftigt da etwas. Ich brauche eine neue Perspektive.« Ich begann zu erzählen und hörte mit Claras Bericht über den Schatzmeister auf. »Das ist alles. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat.«
»Ich kann nicht erkennen, inwiefern das etwas damit zu tun haben könnte, was sich jetzt ereignet. Und das erstochene Baby im Schrank war nur eine Puppe, Merry.«
»Sie hatte einen Brieföffner in der Brust stecken.«
»Hässlich, aber es könnte durchaus der Fantasie eines Teenagers entsprungen sein, der zu viele Horrorfilme gesehen hat.«
»Du magst recht haben.«
»Und die Puppe wurde auch nicht an Olivias Adresse geschickt.«
»Ihre Tante leugnet, die Puppe bestellt zu haben. Ich bin geneigt, ihr zu glauben.«
»Olivia ist aber nicht mit dem alten Schatzmeister verwandt, oder?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass das auf irgendeins der Kinder hier zutreffen könnte. Sie sind viel zu jung.« Ich stellte ein paar Berechnungen an. Das dürfte alles vor etwa zwanzig Jahren passiert sein. »Es sei denn, er hat noch mehr Kinder bekommen, nachdem er von hier wegging.«
»Lass mich mal überlegen.« Es schwang Neugier in seiner Stimme mit. »Ich habe Zeit und könnte ein wenig im Internet recherchieren. Wie hieß der Schatzmeister denn, weißt du das noch?«
»Noel Collins.« So hieß er. Ich hatte Mr. Collins als einen Mann mit traurigem Gesicht in Erinnerung. Der aber freundlich war. Er hatte mir und Clara hin und wieder Schokokekse geschenkt, wenn wir in sein Büro gehuscht kamen.
»Geht es dir gut?« Hugh klang besorgt.
»Ja. Ich schlage mich nur mit alten Familiengeschichten herum.« Ich wusste nicht, ob ich ihm jetzt schon von Olivia erzählen sollte. Aber er war schließlich noch immer mit mir verheiratet. »Gut möglich, dass ich eine neue Nichte bekomme.«
»Clara und Marcus? Sie bekommen ein drittes Kind? Wunderbar. Aber wie will sie sich als Partnerin einer Anwaltskanzlei um ein Baby kümmern?«
»Nicht Clara.« Ich erklärte ihm, was es mit Olivia auf sich hatte, und informierte ihn über die uns bisher verheimlichte Liebesbeziehung meines Vaters in der damaligen Tschechoslowakei.
»Heiliger Strohsack, Charles ist aber ein stilles Wasser«, sagte er. »Der arme Kerl. Das muss ein Schock für ihn gewesen sein.«
»Er scheint hocherfreut zu sein.«
»Du sagtest, das Kind befindet sich im Moment auf der Schule?«
»Sie weiß nichts über diese verwandtschaftlichen Beziehungen. Sofern Olivia tatsächlich die ist, für die wir sie halten.«
Er schwieg eine Weile und meinte dann: »Ich könnte noch einmal hochfahren
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