Das geheime Bild
konnte ich mir dessen auch ganz sicher sein? Die Frau, die neben Emily saß, hatte mir den Rücken zugekehrt.
»Besteht wirklich kein Zweifel daran, dass Olivia auch diejenige ist, für die sie sie ausgeben?«
»Wir haben die Fotos gesehen.«
»Fotos bedeuten nichts. Man braucht schon eine Geburtsurkunde, um sicher sein zu können.«
»Was willst du damit sagen?«
»Überleg doch mal, Merry. Irgendwann wird Dad uns ein nicht unerhebliches Erbe hinterlassen. Selbst wenn die Schule dem Trust gehören sollte. Es müsste was für das Grundstück und für das Haus gezahlt werden, wenn die Schule weiterhin in Letchford bleiben soll. Dads Erben werden davon ziemlich anständig profitieren. Bis vor ein paar Wochen sind wir davon ausgegangen, dass das ich und meine Familie und – nun, nur du die Erben wären.«
Ich wartete.
»Ich muss dir sagen, Merry, dass wir das Geld ganz dringend brauchen. Um Marcus’ Job ist es nicht gut bestellt. Wir müssen die Hypothek abbezahlen und für die Schulgebühren aufkommen. Und der Anteil, der mir als Partner der Kanzlei zusteht, fällt in diesem Jahr auch nicht allzu üppig aus.«
»Dann ist das also der Grund, weshalb du möchtest, dass Dad verkauft.« Ich gab mir Mühe, nicht anklagend zu klingen.
»Ich gebe zu, dass ich daran gedacht habe.« Sie sprach leise, was bei ihr völlig ungewohnt war. »Aber vielleicht müssen Marcus und ich auch einfach das Haus verkaufen.« Sie schien ihr Gleichgewicht wiederzufinden. »Sollte Olivia diejenige sein, für die wir sie halten, dann steht ihr ein gerechter Anteil dessen zu, was Dad uns hinterlässt. Wir haben eine moralische Verantwortung, uns um sie zu kümmern. Aber wir müssen mehr über sie in Erfahrung bringen.«
Bei ihr klang das alles sachlich und nüchtern. Clara mochte zwar herrisch sein und auf ihrem Recht beharren, aber sie war immer gerecht. Als kleines Mädchen zählte sie immer die Smarties in der Packung, um diese dann genau unter uns aufzuteilen. Wenn wir uns in den Ferien ein Bett teilen mussten, maß sie peinlich genau die Matratze aus und wies uns beiden den gleichen Anteil davon zu.
»Du glaubst also, dass Olivia nicht diejenige ist, die sie angeblich sein soll?«
Ich konnte ihr Achselzucken von Clapham bis hierher sehen. »Keiner hat je mit ihr über ihre Kindheit gesprochen. Sie könnte irgendwer sein. Dad behauptet, sie sehe aus wie Hana, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie auch Dads Enkelin ist.«
Das war unverblümt, aber wahr.
»Pass einfach auf, dass er sich nicht allzu sehr mitreißen lässt«, fuhr sie fort. »Achte darauf, dass er sein Testament nicht ändert oder etwas in der Art. Er sollte am besten den Anwalt der Familie zurate ziehen. Er ist anfällig, Merry.«
Das war er mit Sicherheit. Verwitwet. Allein. Hingezogen zu einem Mädchen, das so verloren wirkte, wie er sich vermutlich selbst manchmal fühlte.
»Hab ein Auge auf ihn. Ich werde am Wochenende runterkommen. Am Freitagabend findet ein Treffen des Schulbeirats mit dem Schatzmeister statt, da wollen wir uns die aktuellen Zahlen ansehen, vielleicht könnte ich bei dir übernachten?«
»Selbstverständlich!« Ich konnte es kaum erwarten, sie zu sehen. Nachdem wir aufgelegt hatten, starrte ich noch eine Weile das schweigende Mobiltelefon an. Es war inzwischen dunkel geworden, und ich zog die Rollos herunter, um die Düsternis auszusperren. Da meine Schwester den Schatzmeister erwähnt hatte, erinnerte ich mich wieder daran, was Dad mir über seine Reise nach England in den Sechzigern erzählt hatte, an John Andrews, der ihm ein Zuhause gegeben hatte. Dieser nämliche John Andrews war hier Jahre später Schatzmeister geworden, weil er ein so guter Freund von Dad gewesen war.
Ich versuchte dahinterzukommen, weshalb mir John Andrews ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn gekommen war. Es hatte ein paar Probleme mit dem Schatzmeister vor ihm gegeben, hatte Dad mir berichtet. Er hatte jemanden gebraucht, auf den er sich absolut verlassen konnte. Ich wählte Claras Nummer.
»Merry?« Sie klang müde.
»Was fällt dir zu John Andrews ein?«
»John Andrews?« Ich konnte den Seufzer in ihrer Stimme hören. Sicherlich hatte sie gerade versucht, die Kinder ins Bett zu bringen, ein spätes Abendessen zu kochen und mit Marcus über seine drohende Entlassung zu sprechen.
»Entschuldige. Es ist schon spät.«
»Nein, ist schon gut. Komischerweise musste ich selbst erst kürzlich an ihn denken. Heutzutage könnte so etwas nicht mehr
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