Das geheime Bild
wenig mehr über das Wesen des Leidens zu erfahren. Sie zog ihren Faden abrupt durch das Nadelöhr.
38
K ann ich nicht kommen und mir das Stück ansehen?«, fragte Hugh, als er mir Wein nachschenkte.
Ich sah ihn verwundert an. Für gewöhnlich beschränk-te sich die Begeisterung an Schulaufführungen auf Eltern und Großeltern der Ensemblemitglieder. »Warum nicht.«
»Du brauchst mir aber keinen Gefallen zu tun. Ich kann auch zu Hause bleiben und mir ein Video ansehen«, erwiderte er belustigt.
»Ich bin einfach nur überrascht, dass du das möchtest.«
»Es wird bestimmt eine ganz hervorragende Aufführung. Und mir gefällt Hexenjagd . Ich habe die Verfilmung mit Winona Ryder und Daniel Day Lewis gesehen.«
Aber nicht mit mir. Offenbar war das während seiner Auslandseinsätze. Oder im Krankenhaus. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit diesem Niveau mithalten können.«
»Ich würde Olivia gern wiedersehen. Weiß sie schon Bescheid?«
Dass ihr Direktor eigentlich ihr Großvater war? »Wir werden es bis nach den Ferien zurückhalten.« Ich hatte mich nicht getraut, ihn nach seinen Plänen für Weihnachten zu fragen. »Wie geht es mit dem neuen Bein?«, tastete ich mich vor.
Ein langes Schweigen.
»Sagen wir mal so, mein Gehirn hat noch nicht akzeptiert, dass ich kein kaputtes linkes Bein mehr habe«, sagte er schließlich leise. »Manche Nächte sind … interessant.« Ich hatte mich über Phantomschmerzen informiert, weil ich wissen wollte, was er durchmachte, und zuckte zusammen. »An manchen Abenden gebe ich einfach jeden Versuch zu schlafen auf und fahre durch die Gegend.«
»Wohin fährst du dann?« Er war nicht in seinem neuen Wagen zum Abendessen gekommen, weil er sonst keinen einzigen Schluck Alkohol hätte trinken können, wie er erklärte. Offenbar war ein Abend mit mir nur mit einer alkoholischen Krücke erträglich.
»Ich fahre einfach nur ziellos umher.« Er spielte mit der Knoblauchpresse, die ich aus der Schublade geholt hatte.
Ich konnte nur hoffen, dass er um alle Hilfe bat, die er bekommen konnte. Ich kochte Schweinefleischstreifen und Gemüse im Wok mit Chilis, Sherry und ein paar anderen Zutaten, von denen das Kochbuch behauptete, dass sie miteinander harmonierten. Ein paar Zwiebeln blieben im Wok kleben, und das Schweinefleisch war ein wenig verkocht, aber Hugh aß es mit offensichtlichem Genuss. »Du hast dich zu einer guten Köchin gemausert, Merry.« Wir aßen in einvernehmlichem Schweigen.
»Darf ich deinen Laptop benutzen?«, fragte er, als wir fertig waren.
Ich zeigte ins Wohnzimmer. »Auf dem Sofa.« Vielleicht fand er es ja doch nicht so gemütlich und traulich wie ich, mit mir am Küchentisch zu sitzen. Aber er holte den Laptop in die Küche.
»Ich will nur nach ein paar Namen suchen.« Er stellte ihn auf den Tisch. »Ich hatte kaum Hoffnung, etwas über die tschechische Seite zu finden, aber mir sind noch ein paar Ideen gekommen.«
Ich stellte mich hinter ihn, um die Teller abzuräumen. Sein Körper fühlte sich neben meinem sehr warm an. Ich hätte meinem Verlangen leicht nachgeben können. Jede Zelle meines Fleisches sehnte sich nach Körperkontakt. Aber etwas sagte mir, dass der erste Schritt von ihm kommen musste.
Nachdem wir die Schokomousse verspeist hatten, die ich vor dem Unterricht zubereitet hatte, widmete Hugh sich wieder seiner Internetrecherche. Ich machte Kaffee und sah ihm dabei zu. »Erzähl mir mehr über den Betrug des Schatzmeisters«, bat er. Ich berichtete, was Clara mir darüber erzählt hatte.
»Eine traurige Geschichte.«
»Wonach suchst du denn?«
»Ich sehe nach, ob ich in irgendwelchen Zeitungsarchiven etwas darüber finden kann.«
»Dad hat die Polizei nicht eingeschaltet.«
»Hab ich mir schon gedacht.«
»Wie meinst du das?«
Er zuckte mit den Achseln. »Er denkt nicht gern schlecht über Menschen.« Er stand auf und bewegte sich so fließend, dass ich seine Prothese vergaß. »Ich werde zu Hause daran weiterarbeiten. Ich sollte mir jetzt wohl lieber ein Taxi kommen lassen.«
»Das musst du nicht.« Ich hielt inne und fragte mich, woher die Worte gekommen waren. Es war jedenfalls mit Sicherheit nicht meine Absicht gewesen, meinen Mann einzuladen, über Nacht dazubleiben. Verärgert stellte ich fest, dass ich errötet war wie ein Teenager in der dritten Klasse, wenn eins der Pin-up-Models aus der sechsten Klasse vorbeischlenderte.
Er sah mich an und dann auf sein Bein. »Ich weiß nicht.« Er berührte es. »Es ist mir zu
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