Das geheime Bild
geordneter, als ich es mir vorgestellt hatte. Leidenschaftslos betrachtete er sein Bein. »Es verändert sich ständig«, sagte er. »Weil die Schwellung zurückgeht und die Muskeln sich aufbauen. Deshalb muss es auch immer wieder gemessen werden, um sicherzustellen, dass der Schaft richtig sitzt.«
Ich legte eine Hand auf das Bein, eine knappe Handbreit über dem Stumpf, als würde ich etwas Wildes und Bösartiges anfassen. Es biss mich nicht. »Tue ich dir weh?«
»Nein.« Er lachte. »So gemein sind nur die Physio- und die Sporttherapeuten.« Er bewegte meine Finger über sein Bein.
Meine Angst war verschwunden.
39
Emily
M eredith war die ganze Nacht über mit Holzbein in ihrer Wohnung geblieben. Aber der passende Moment kam, als Charles Statton zwei Tage vor der Aufführung des Theaterstücks die Versammlung abhielt. Meredith saß mit den anderen Lehrern im Saal, was auch sonst, sie war ja ganz die loyale Tochter. Eigentlich hätte auch Emily an der Versammlung teilnehmen sollen, aber sie hatte eine gute Entschuldigung parat, wegen einer möglichen Überschneidung von einem Hockeyspiel und einem 7er-Rugby-Fest im nächsten Trimester. Das Entsetzen auf Jeremys blödem rosa Gesicht hätte sie beinahe zum Lachen gebracht, wäre die Lage nicht so ernst gewesen. »Ich kümmere mich darum, keine Sorge.«
Brummelnd meinte er, ohne Emily völlig aufgeschmissen zu sein. »Als Sie hier anfingen, waren Sie nicht sehr an Sport interessiert«, ergänzte er. »Das war jedenfalls mein Eindruck.«
Man soll nie jemanden nach dem ersten Eindruck beurteilen, weißt du das nicht, Jeremy?
Sie hatte an Merediths Hund gedacht und ein paar Scheiben Speck vom morgendlichen Frühstück mitgebracht, um ihn abzulenken. Samson war groß genug, um sie ins Schwitzen zu bringen. Er mochte sie nicht besonders, was sie schon registriert hatte, als sie ihm in Simons Haus begegnet war. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Er stand knurrend an der Tür, als sie aufsperrte. Sie zog einen Stiefel aus und schlug ihm damit auf die Schnauze. Er zog sich wimmernd zur Küchentür zurück. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Wenn aus dem Wimmern Bellen wurde, könnte jemand rüberkommen, um nach dem Rechten zu sehen. Emily wusste eigentlich gar nicht, wonach sie suchte. Sie hoffte auf eine E-Mail an oder von Meredith. Vielleicht hatte sie alle Einzelheiten aufgeschrieben und diese an ihre Schwester geschickt. Du ahnst nicht, was ich über Emily herausgefunden habe …
Sie entdeckte den Laptop auf dem Couchtisch im Wohnzimmer und bewegte sich langsam darauf zu, wobei sie hoffte, dass der Hund blieb, wo er war. Obwohl sie in Eile war, blieb doch Zeit genug wahrzunehmen, wie elegant diese Wohnung eingerichtet war: Wände in gebrochenem Weiß und Holzböden. Aber keine Bilder an den Wänden. Offenbar liebte Meredith es schmucklos. Auf dem Kamin stand ein Foto von einem Mann in Uniform. Der verkrüppelte Ehemann, bevor er sein Bein und seine Finger verloren hatte.
Der Hund beäugte sie noch immer mit aufgestellten Ohren von der Küchentür aus. Sie schaltete den Laptop ein. Keine Aufforderung, ein Passwort einzugeben. Gut. Sie loggte sich ins Internet ein und ging die Lesezeichen durch. Es gab einen Ordner für die Reise nach Tschechien, aber dort standen nur Details zum Flug und zum Mietauto. Als einziger Ort war Prag erwähnt. Sie hatten weder Straßenkarten noch spezielle Adressen heruntergeladen, soweit Emily das beurteilen konnte.
Sie fragte sich, wo Meredith wohl die Weihnachtsferien verbringen würde. Vielleicht flog sie mit ihrem verwundeten Helden und Ehemann irgendwohin in die Sonne. Emily hatte beobachtet, wie er am gestrigen Abend die Wohnung betreten und erst heute Morgen, kurz vor der Versammlung, in einem Taxi weggefahren war. Auch mit dem Holzbein sah er ziemlich gut aus. Kein Wunder, dass Meredith so selbstzufrieden schaute.
Sie ging den Verlauf von Merediths Internetbesuchen durch. Erstarrte. Blinzelte. Holte Luft. Schaute wieder hin. Und sah noch immer denselben Namen. Meredith hatte in der Vergangenheit gewühlt. Erfolglos, wie es aussah. Aber darum ging es nicht.
Zitternd setzte Emily sich auf ihre Hacken. Vielleicht hatte Meredith es herausgefunden. Emily starrte auf die Namen und spürte, wie Wut weißglühend in ihr hochkochte und sich im ganzen Körper verteilte. Das veränderte alles. Der Hund knurrte sie von der Küche her an – offenbar witterte er ihren Zorn. »Halt’s Maul«, murmelte sie. Am liebsten hätte sie eine
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