Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliza Graham
Vom Netzwerk:
Aber nach kurzer Überlegung erstickte ich meinen Protest. Während wir aufwuchsen, war es auf der Schule sehr entspannt zugegangen. Die Lehrer schienen mehr oder weniger das unterrichten zu können, was sie wollten oder wovon sie glaubten, dass es für ihre Schüler wissenswert war. Den vielen Tafeln nach zu urteilen, die in der Eingangshalle hingen und Stipendien ehemaliger Schüler für Oxford und Cambridge auflisteten, konnte diese Laissez-faire-Haltung nicht geschadet haben. Aber die Rolle meines Vaters hatte sich geändert. Noch vor zwanzig Jahren hatte er viel Zeit damit zugebracht, einfach nur mit Leuten zu reden. Mit Schülern. Eltern. Lehrern. Mit den Platzwarten, die die Spielfelder mähten und walzten. Damals sah ich ihn den ganzen Tag über in Bewegung: Er tauchte an den Türen der Klassenzimmer auf, stand in der Pause auf dem Treppenabsatz, um die herausströmenden Schüler zu beobachten. Bei Hockey- und Rugbyspielen schritt er die Seitenlinien ab und strahlte vor Vergnügen, wenn es einen Sieg gab, obwohl er durchaus die Ansicht vertrat, zu viel Wettkampfgeist lenke von der liberalen Atmosphäre ab, die er sich für Letchford wünschte. Er verkörperte die Augen und die Ohren der Schule. Aber im Lauf der letzten zehn Jahre war der Stapel mit Papierkram ständig gewachsen und hielt ihn immer länger in seinem Büro fest.
    »Er ist nun einmal älter geworden.« Es wäre ungerecht, von ihm dieselbe Aktivität wie in seinen jungen Jahren zu erwarten.
    »Genau. Sechzig.«
    »Für Lehrer gibt es kein fixes Rentenalter«, erinnerte ich sie. »Er könnte noch Jahre so weitermachen.«
    »Als Direktor? Wäre das denn für ihn das Beste, Merry? Und für die Schule?«
    Ich stellte mir meinen Vater ohne die Schule vor. Was würde er mit sich anstellen?
    Traurigkeit übermannte mich. Ich war so sehr in meinem eigenen Kummer und meinen Ängsten gefangen gewesen, dass ich versäumt hatte, mir darüber Gedanken zu machen. »Aber wenn Dad nicht mehr Direktor wäre, was soll dann aus Letchford werden?« Als ich dabei an meine Wohnung dachte, errötete ich. Eigentlich hatte ich gemeint, was dann aus mir werden soll. Möglicherweise würde Dad selbst gerne hier einziehen, wie er und Mum das für ihr Rentenalter geplant hatten. Bei dem Gedanken an weitere Veränderungen in meinem Leben musste ich schlucken. Vor dem Fenster schwankten die Kastanien und die Eichen im Wind. Bald würden sie bei jeder Bewegung ihre kupfer- und goldfarbenen Blätter abschütteln. Hinter ihnen erhoben sich die Downs wie der Rücken eines schlafenden braungrauen Tiers.
    »Ich denke, er sollte das Anwesen dem Trust verkaufen.« Inzwischen war die Schule an einen Bildungstrust übergegangen, während die Gebäude und das Grundstück sich noch im Privatbesitz befanden. »Er soll das Geld nehmen und sich dann irgendwo fern der Schule ein schönes Leben machen. Solange zwischen Dad und der Schule nicht mindestens achtzig Kilometer liegen, wird er nicht loslassen können. Du weißt doch, wie er ist, er würde ständig vorbeikommen und allen erklären, dass sie die Spielfelder falsch gemäht haben oder so.«
    Dad und Letchford verlassen. Das Haus mit den honigfarbenen Cotswold-Steinen verlassen. Und die Gärten. Das Wandgemälde. Dieser Gedanke war viel weitreichender als der, dass ich zu gegebener Zeit wieder ausziehen musste.
    »Wir können es unmöglich verkaufen«, sagte ich wütend. »Niemals.« Dabei saß ich sehr aufrecht auf meinem Stuhl, die Fäuste kampfbereit geballt.
    »Denk darüber nach«, meinte Clara erschöpft.
    »Ich werde dich darin nicht unterstützen.«
    »Glaubst du nicht«, sie zögerte, »dass deine Reaktion mit den Ereignissen der letzten sechs Monate zu tun haben könnte? Letchford ist für dich verständlicherweise wieder sehr wichtig geworden.«
    Am liebsten hätte ich sie angeschrien, sie solle mich nicht so von oben herab behandeln, aber sie hatte recht. Der Ort war für mich zu einer Krücke geworden. Unglückliche Wortwahl.
    »Es steht uns aber nicht zu, Entscheidungen für ihn zu treffen.« Ich malte mir aus, wie mein Vater das Haus verließ, das Geburtshaus meiner Mutter, das mehrere Hundert Jahre im Besitz ihrer Familie gewesen war, dessen Gärten noch voller von ihr gezogener Pflanzen waren, an dessen Fenstern die von ihr genähten Vorhänge hingen.
    »Doch es ist etwas, worüber wir mit ihm sprechen sollten.« Das sagte sie fast mechanisch.
    »Ich finde nicht, dass wir ihm das Gefühl geben sollten, er sei zu alt

Weitere Kostenlose Bücher