Das geheime Bild
schien erleichtert zu sein.
Ich nickte. »Aber als ich dann sah …« Als ich sie gesehen hatte, meinte ich, aber etwas warnte mich davor, diese gemalte Frau zu erwähnen.
Dads Augen wurden schmal. »Du weißt gar nicht, was du da getan hast, Meredith.«
»Wer ist sie?« Es war mir unmöglich, diese Frage noch länger zurückzuhalten.
»Niemand.« Er ging an mir vorbei. »Wir sprechen uns später.« Ich hörte die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fallen.
»Mum?« Ich dachte, sie würde mir nicht antworten.
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte sie schließlich. »Vielleicht jemand, den er sich ausgedacht hat.«
»Warum fragen wir Dad nicht, wer sie ist?«
»Nein«, murmelte sie. »Er ist ohnehin schon durcheinander genug.«
»Was meinst du damit?«
Sie blinzelte und schien von weit weg zurückzukommen. Ihre Augen blitzten mich wieder an. »Glaub ja nicht, du könntest mich von einer Bestrafung ablenken. Ihr beide wartet jetzt in eurem Zimmer, bis euer Vater mit den Eltern fertig ist. Dann werden wir entscheiden, was wir mit euch machen.«
Das Mädchen war nur ein Gemälde, aber es hatte alles verändert.
11
C lara und ich beendeten unser Telefonat. Am Ende unseres Gesprächs schien sie versöhnlicher gestimmt zu sein, als hätte die Erwähnung des Wandgemäldes sie daran erinnert, wie viel das Haus uns beiden bedeutete.
»Du hast damals für den ganzen Vorfall deinen Kopf hingehalten«, sagte sie mit trauriger Stimme. »Mum und Dad waren so wütend. Sie schienen dich mehr zu beschuldigen als mich. Ich fühlte mich schlecht dabei.«
Sie hatten mich härter bestraft. Jedenfalls machte es den Anschein. Vielleicht war Clara einfach das Kind, das sich besser zu benehmen wusste.
»Mach dir nichts draus. Vermutlich habe ich dir noch Wochen danach das Leben zur Hölle gemacht«, erwiderte ich. Nachdem ich ihr versprochen hatte, sie bald wieder anzurufen, legte ich auf. Mit meinen Gedanken noch immer bei der Frau vom Wandgemälde griff ich nach der Leine und befestigte sie am Hundehalsband. Aber beim Gehen kam wieder Leben in mich, und die Bewegung schüttelte die Vergangenheit von mir ab. Heute Morgen roch die Luft nach Herbstfeuern, und als wir uns dem Wald näherten, ging ein Blätterregen um uns nieder.
Wenn ich mit Samson rausging, fühlte ich mich normalerweise allein. An diesem Morgen spürte ich Blicke in meinem Rücken. Ein- oder zweimal drehte ich mich um, sah aber nichts weiter als feuchten Dunst. Die Welt sah aus wie von einem Drucker ausgedruckt, dem die farbige Tinte ausgegangen war. Mich fröstelte. Der Hund spürte ebenfalls die Anwesenheit von jemandem. Er blieb stehen, winselte kurz und wedelte mit dem Schwanz, bevor er seine Verfolgungsjagd nach Kaninchen fortsetzte.
Schüler erzählen manchmal von Geistern in Letchford. Ich selbst hatte nie welche gesehen. Den größten Teil seiner vier- oder fünfhundertjährigen Geschichte schien das Haus unter dem Schleier der Anonymität verbracht zu haben. Offenbar war es den Familien, die das Haus über die Jahrhunderte hinweg weitervererbt hatten, gelungen, auch in turbulenten Zeiten ihre Köpfe zu behalten. Selbst der loyale Simon hatte Mühe, irgendetwas Sensationelles für seine Geschichte von Letchford auszugraben. Und meine Mutter, nun, sie hätte mir weder zu ihren Lebzeiten noch danach Angst einjagen oder für Unbehagen sorgen wollen. Wenn sie als Geist zurückkäme, dann als ein sehr besonnener und freundlicher, der bei vollem Tageslicht im Garten verweilte und sich im Rascheln eines Buschs bemerkbar machte. Ich kam zu dem Schluss, dass die Erinnerung an dieses unter der Farbe in der Eingangshalle verborgene Mädchen die Ursache meiner Nervosität war.
Jahrelang hatte ich nicht mehr an das Mädchen gedacht, an diese Personifikation des Lebens, das mein Vater in Zentraleuropa zurückgelassen hatte. Wer es war, hatte er uns nie erzählt, und Mutter hielt an ihrer Geschichte fest, es nicht zu wissen.
»Sie trug hübsche Kleider«, sagte Clara.
»Sehr auffällig.« Mums Stimme war matt.
Nachdem Mum gegangen war, hatte Clara mich angestupst. »Das war bestimmt Dads alte Freundin. Bevor er hier rüberkam.«
Ich hatte große Augen gemacht. Ich konnte mir Dad mit niemand anderem außer Mum vorstellen. »Woher willst du das wissen, Clara?«
Achselzuckend erwiderte sie: »Das liegt doch auf der Hand. Deshalb hatte er es auch so eilig, sie zu übermalen.« Das stimmte. Die Ausbesserung hatte noch am selben Tag stattgefunden, sobald die
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