Das geheime Bild
ihren Friséesalat auf. »Aber nicht so wie hier.« Ihr Blick wanderte durch das Küchenfenster und über den Rasen, auf dem die langen Schatten der Eichen lagen. Der Stein des alten Hauses reflektierte das Sonnenlicht und sah aus, als hätte jemand es in flüssiges Gold getaucht. »Sie haben mir gesagt, wie wunderschön es hier ist, aber ich hatte keine Ahnung, bevor ich tatsächlich hier ankam.« Dies sagte sie mit stillem Nachdruck. Noch nie hatte ich einen Schüler derart hingerissen von der Schönheit Letchfords schwärmen hören. In meiner Jugend hatte ich mich immer über diese Blindheit gegenüber dem, was die Schüler hier umgab, geärgert. Mit siebzehn erwischte ich zufällig einen dreizehnjährigen Jungen dabei, wie er die Spitze seines Zirkels in die niedrige Kalksteinmauer der Terrasse bohrte.
»Was zum Teufel machst du da?« Ich spürte die Zornesfunken meines Blicks. »Lass das.« Mit Panik in seinen Augen war er davongesprungen. Wie konnte er es wagen, die Mauer zu verunstalten, unsere Mauer! Clara hatte einmal Viertklässler dabei erwischt, wie sie ihre Initialen in eine der Eichen schnitten, und ihnen in derart scharfen Worten die Meinung gesagt, dass sie jedes Mal, wenn sie ihr begegneten, sichtlich bebten. Aber Olivia, die merkwürdige, bleiche, linkische Olivia, strahlte mit dem Oktoberlicht fast um die Wette, und ich hatte nichts dagegen. Ich verübelte es ihr nicht, hier zu sein. Ich hätte sie sogar gern in den Arm genommen, ein Gefühl, das mich so unvermittelt überkam, dass es mich erschreckte.
»Ich werde das Tablett zurückbringen«, war alles, was ich sagte.
Sie starrte noch immer aus dem Fenster. »Warum machen Sie hier kein Ferienlager?« Die Wehmut in ihrer Stimme war eindeutig.
Ich trug das Tablett über den Rasen zurück zur Hauptküche und hatte dabei die Schreie der Jungs im Ohr, die einen Ball übers Feld kickten. Eine Gruppe Mädchen saß auf einer Bank unter einer der Eichen, die Köpfe in goldenes Sonnenlicht getaucht. Sie sahen aus, als gehörten sie zu einem Gemälde. Bald kam der Winter und würde den Rasen und die Terrasse in frostiges Weiß tauchen. Und wieder war fast ein Jahr ins Land gegangen. Mit einem Kloß im Hals sagte ich mir, dass das Leben an mir vorbeirauschte und mein verletzter Ehemann noch immer von mir getrennt war. Gleichzeitig spürte ich den Drang loszulassen, mich im Rhythmus des Schuljahres treiben zu lassen. Mein Vater brauchte mich hier. Ich war nützlich.
Tracey war im Speisesaal und servierte das Essen, also sortierte ich das Geschirr in den Geschirrspüler, wobei ich darauf achtete, auch alles richtig zu machen, da Tracey sehr genaue Vorstellungen hatte, wie die Küche geführt wurde. Ein Satzfetzen, den Olivia drüben in Gavin ausgesprochen hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. »Sie haben mir gesagt, wie wunderschön es hier ist …« Wer waren »sie«? Ihre Tante und wer sonst noch? Offenbar waren sie an einem Tag der offenen Tür hier gewesen, wie dem, den wir an jenem Nachmittag abgehalten hatten, an dem die Reborn-Puppe gefunden wurde. Eine derartige Begeisterung für die Schule schien gar nicht zu einer Tante zu passen, die ihre Nichte nie besuchte.
Erst als die Glocke das Ende des Nachmittagsunterrichts verkündete, konnte ich mit meinem Mobiltelefon und der E-Mail von Delicious Confections in meine Wohnung entkommen. Samson begrüßte mich mit angelegten Ohren und wedelndem Schwanz. Ich war mit ihm noch nicht draußen gewesen. »Gleich«, versprach ich, als ich die Nummer wählte.
Beim zweiten Läuten wurde abgenommen. Auf meine ausgedachte Geschichte von einem Geschenk, das ich ohne ein Begleitkärtchen erhalten hatte, reagierte die Frau mit Zweifeln. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen Informationen über unsere Kunden herausgeben darf.«
»Ich würde mich so gern bei meiner Freundin bedanken«, sagte ich, um Aufrichtigkeit bemüht. »Es ist so ein fantastisches Geschenk.«
»Wir hängen immer ein Geschenkkärtchen daran«, sagte sie.
»Das hat mein Hund abgerissen«, log ich. »Ich möchte nur Ärger vermeiden, indem ich mich womöglich bei der falschen Person bedanke. Ich habe zu meinem Dreißigsten so viele schöne Geschenke bekommen.« Hoffentlich hörte man mir nicht an, dass mir von meinen eigenen Worten speiübel war.
Ich hörte es rascheln, offenbar blätterte sie in ihren Unterlagen. »Es gibt da eine Puppe, die vor ein paar Wochen verschickt wurde«, meinte sie bedächtig. »Wo wohnen Sie?«
»Oxfordshire.«
»Dorthin
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