Das geheime Bild
die Wohnung, als wäre ich wieder das kleine Mädchen und die Räume im ersten Stock noch immer mein Zuhause. Ich hatte noch ein paar Minuten Zeit, bevor mein Unterricht begann. Die 3b hatte diese Woche Dienst bei der Morgenversammlung und musste Stühle und Bänke wegstellen, weshalb es etwas länger dauern würde, bis sie in ihrem Klassenraum zur ersten Stunde eintrafen. Dad loggte sich auf dem Laptop ein und gab ein Passwort ein, um Zugriff auf die Schülerdatenbank zu bekommen. »Samantha kümmert sich jetzt um die Verwaltung der Datenbank, aber sie macht heute Vormittag einen Übungskurs. Ich weiß wirklich nicht, wie das funktioniert.« Stirnrunzelnd betrachtete er den Bildschirm. »Olivia scheint tatsächlich kein gefestigtes Zuhause zu haben. Ihre Tante ist ihr Vormund und wohnt an ihrem Arbeitsplatz. Es gibt nur eine Mobilnummer.«
Er wählte diese über das Bürotelefon. Dann schüttelte er den Kopf. »Anrufbeantworter«, flüsterte er. »Hier ist Charles Statton. Ich rufe von der Letchford-Schule an und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich so bald wie möglich zurückrufen könnten.« Dann erklärte er, was passiert war.
Er legte auf und wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu. »Für gewöhnlich haben Schüler eine Kontaktnummer für den Notfall, aber die fehlt in Olivias Akte.«
»Gibt es also niemand anders?«
»Es gibt nur eine E-Mail-Adresse.« Meine Augen wanderten über den Bildschirm. Normalerweise achtete ich sehr darauf, nichts zu sehen, was ich nicht sehen sollte, wenn mein Vater in seinem Büro war. Lehrer in meiner Stellung hatten keinen Zugang zur vollständigen Datenbank. Ich konnte die Adresse lesen und merkte mir, dass es ein Dorf in der Nähe von Wokingham war. Die Felder für weitere Notfallkontakte waren leer.
Das heimatlose Kind Olivia, das außer seiner abwesenden Tante niemanden hatte.
»Ich denke, wir können eine Art Dienstplan für die Betreuung von Olivia aufstellen. Im Moment hält sie sich in ihrem Haus auf, Tracey schickt ihr Frühstück rüber.« Er erhob sich. »Lass uns nach unten gehen, was meinst du?«
Im Erdgeschoss angekommen, tauchte Emily mit einem Tablett aus der Küche auf. »Ich habe mich angeboten, das zu Olivia rüberzubringen.« Und nach einer Pause: »Tracey hat wirklich viel zu tun. Ich habe heute Morgen nicht viel zu tun. Ich könnte mich zu Olivia setzen, wenn das hilft.« Während sie dies vorschlug, sah sie meinen Vater an.
»Wo werden Sie denn erwartet?«, erkundigte sich mein Vater.
»Ich soll für Jeremy die Kegel für das Hockeyspiel der Viertklässler herrichten. Das ist nicht so wichtig.« Ihr Ton ließ mich sie genauer ansehen. »Ich würde mich gern um Olivia kümmern.«
Mein Vater betrachtete sie. »Es gibt mit Sicherheit andere Dinge für Sie zu tun, die nützlicher sind, als bei Olivia Wache zu halten.« Das sagte er freundlich, aber entschlossen. »Dieses Jahr ist dazu gedacht, dass Sie sich mit dem Unterrichten an einer Schule vertraut machen.«
»Es macht mir aber nichts aus.«
»Sie müssen Ihre Zeit mit den Lehrern verbringen«, fuhr er fort. »Selbst wenn Sie nur Kegel bereitstellen. Auf diese Weise bekommen Sie Gelegenheit, den Unterricht zu beobachten. Bringen Sie das Tablett rüber, aber kommen Sie sofort wieder zurück.«
Emily schien Einwände erheben zu wollen. Die Glocke läutete. Ein Horde Teenager schob sich durch die Eingangshalle und an uns vorbei, als wären wir Felsen in einem sich rasch bewegenden Strom. Ein oder zwei betrachteten uns mit neugierigen Blicken. »Sie müssen sich beeilen, Emily«, ermahnte mein Vater sie. »Jeremy rechnet mit Ihnen auf dem Hockeyfeld.«
Für einen kurzen Moment war die Abneigung in ihrem Blick nicht zu übersehen, aber sie nickte.
»Ich begreife es nicht«, sagte ich, nachdem sie mit dem Frühstückstablett verschwunden war. »Warum diese Besessenheit von Olivia?«
Mein Vater drehte sich um, um Emily hinterherzuschauen. »Vielleicht macht sie sich Sorgen, weil sie gestern Abend als Erste am Unfallort war«, meinte er so überzeugend, dass ich es ihm fast abnahm, bis mir der Schnitt an Olivias Arm wieder einfiel.
»Glaubst du, Emily weiß von den Schnitten?«
Er sah mich scharf an. »Wenn ja, müsste sie sofort mit Cathy Jordan sprechen.«
»Sie hat etwas an sich, was ich nicht zu fassen kriege.« Ich hatte sie den Korridor entlanggehen sehen, wo ihr eine Gruppe Mädchen der Abschlussklasse entgegenkam, die gemäß dem ungeschriebenen Kodex guten Benehmens hätten
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