Das geheime Bild
Haar. »Ja bitte?«
»Ich habe ein Paket für eine Olivia Fenton. Wohnt sie hier?«
»Olivia Fenton?«
»Ich denke, so steht es auf der Adresse.«
»Hier wohnt keine Olivia Fenton.« Sie sprach mit einem leichten Akzent, russisch vielleicht. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie den Kopf drehen. Sie zog die Stirn kraus.
»Vorsichtig, Sofia!« Dann ergänzte sie etwas in einer anderen Sprache. Es hörte sich slawisch an.
»Sorry.« Über ihre Kaschmirschulter hinweg sah ich eine andere Frau, etwa Mitte dreißig, schmal, mit einem sorgenvollen Gesicht, sich bücken, um den Papierkorb aufzuheben, den sie auf den Hartholzboden hatte fallen lassen.
»Dann habe ich wohl die falsche Adresse bekommen. Tut mir leid, Sie belästigt zu haben.« Ich lächelte und ging.
Hinter dem Haus verlief eine schmale Gasse, wohl dazu gedacht, die Mülltonnen und Schubkarren rauszubringen. In der Hoffnung, dort vor neugierigen Blicken geschützt zu sein, bog ich ein. Tatsächlich konnte ich von dort die Rückseite des Hauses einsehen und hatte freien Blick auf die Küche mit ihren Eichenschränken und der Arbeitsfläche aus Granit. Ein Haus, wie es typischer für eine Familie, die ihre Kinder nach Letchford schickte, nicht sein konnte. Nur ging ich nicht davon aus, dass die Frau, mit der ich gesprochen hatte, irgendetwas mit Olivia zu tun hatte. Ich blieb stehen und beobachtete das Anwesen. Schließlich öffnete sich die Hintertür, und Sofia kam mit einer Kehrschaufel heraus. Sie leerte deren Inhalt in eine schwarze Tonne und stellte dann die Schaufel ab. Nach einem raschen Blick über die Schulter holte sie aus ihrer Tasche eine Packung Zigaretten und Streichhölzer. Sie zündete sich eine Zigarette an, und ihr Gesicht entspannte sich, als das Nikotin ihren Kreislauf erreichte. Sie hatte ein hübsches Gesicht, wie mir auffiel, aber früh gealtert mit Falten und Schatten durchzogen. Sofia blies langsam den Rauch aus und schloss kurz ihre Augen.
»Sofia«, rief die Frau aus dem Haus. »Ich gehe jetzt. Fangen Sie schon einmal mit dem Abendessen an, während ich weg bin? Das Lammfleisch steht auf dem Küchentisch, es ist inzwischen fast aufgetaut. Und kochen Sie wieder die Suppe, die es letzte Woche gab.«
»In Ordnung, Mrs. Smirnova«, rief Sofia zurück und versteckte dabei die Zigarette hinter ihrem Rücken. »Sie haben doch die Aprikosen zum Lamm besorgt, oder?«
»Stehen auf dem Tisch mit den Mandeln. Und vergessen Sie nicht, die Weingläser zu polieren.« Dann sagte sie etwas auf Russisch.
Sofia schloss wieder ihre Augen, als wollte sie verhindern, dass der Klang der Stimme ihrer Arbeitgeberin sie erreichte.
Ich wartete, bis ich hörte, wie der Mazda aus der Einfahrt fuhr, und kehrte dann zur Eingangstür zurück, um noch einmal anzuklopfen. »Hallo«, sagte ich, als sie öffnete. Ihre geschürzten Lippen verrieten mir ihre Verärgerung, dass sie gezwungen gewesen war, ihre Zigarette auszudrücken. »Darf ich reinkommen? Es geht um Olivia.«
Sie riss die Augen auf. »Ist sie krank?«
»Es geht ihr gut. Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
Mit einem Ausdruck der Erleichterung vergewisserte sie sich, dass ihre Arbeitgeberin wirklich weggefahren war. »Nur zehn Minuten. Sie sieht es nicht gern, wenn ich Besuch habe.«
Und Mrs. Smirnova würde es zweifellos nicht begrüßen, während der Schulferien eine Nichte von Sofia zu beherbergen. Ich betrat den adretten Flur. Sofia forderte mich mit einem Kopfnicken auf: »Ja?«
»Ich arbeite an der Letchford-Schule.«
Sie senkte ihren Blick auf ihre weißen Turnschuhe.
»Ihre Nichte Olivia ist dort Schülerin.« Sie sagte nichts. »Haben Sie die Nachricht von ihrer Verletzung erhalten?« Sie schwieg noch immer, aber seitlich ihres Mundes zuckte ein Muskel. »Wir haben inzwischen fast Halbzeit des Trimesters, und Olivia geht es viel besser. Vielleicht möchten Sie sie besuchen? Es gibt hübsche Spaziergänge rund um die Schule, und Olivia könnte Sie herumführen. Wenn Sie tagsüber arbeiten, können wir sicher auch ein Treffen für Sie am Abend vereinbaren.«
»Ich kann sie nicht besuchen«, murmelte sie. »Ich muss arbeiten, tagsüber und abends.« Die dunklen Schatten unter ihren Augen verrieten, dass ihre Nächte lang waren. »Aber Olivia ist gesund, das ist gut.« Sie verschränkte wie zur Verteidigung ihre Arme vor ihrem Körper. »Ich habe ihr letzte Woche etwas mehr Geld geschickt. Damit sie einkaufen gehen kann. Sich neue Kleider kaufen kann. Sie wächst so schnell. Sie hat
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