Das geheime Bild
war. Offenbar arbeitete sie immer spät nachts an den Kostümen.
Halbzeit des Trimesters war in wenigen Tagen. Ich fragte mich, ob Emily die Ferien nutzen und nach London oder sonst irgendwohin fahren würde, wo es mehr Zerstreuung gab als in Letchford. Ich fragte sie nach ihren Plänen für die kommende Woche.
»Ich habe noch nichts geplant.« Sie verknotete ihre Hände vor ihrem Schoß. »Ich dachte, ich bleibe einfach hier. Fahre vielleicht für einen oder zwei Tage nach London.«
»Das sollten Sie tun. Es gibt dort viel zu sehen. Sie könnten auch Bath besichtigen. Oder sogar Edinburgh.«
»Vielleicht.«
Ich musste zugeben, dass die Aussicht auf ein paar Tage ohne Emily hier in Letchford verlockend war. Ich konnte nicht verstehen, warum ich sie so wenig mochte. Nicht mochte . Ich war jetzt in der Lage, dies laut auszusprechen. Aber warum? Sie war effizient und sehr hilfsbereit in der Schule. Die jüngeren Kinder schienen sie zu mögen, und sie kam auch ganz gut mit den älteren Schülern zurecht. Sie übernahm Aufgaben, die die Lehrer nur zu gern anderen übertrugen: das Aufräumen der Klassenzimmer, die Suche nach verloren gegangenen Memorysticks und Aufgabenheften, Einspringen bei den Pausendiensten. Ihre Weigerung, die Hockeykegel herzurichten, war die einzige dieser Art geblieben. Und dann natürlich die Kostüme. Offensichtlich hatte sie peinlich genau recherchiert und diese dann entworfen und mit der Hilfe einiger Sechstklässler genäht.
»Ich würde behaupten, dass aus ihr eine gute Lehrerin werden kann«, hatte Deidre an jenem Abend im White Oak gemeint, während Emily auf der Toilette war. »Sie geht in ihrer Arbeit auf. Und sie ist eine reife Persönlichkeit. Einige der Gappys, die wir bekommen, brauchen fast genauso viel Aufmerksamkeit wie die Kinder.«
»Mag sein.« Simon hatte sich noch ein Glas Wein nachgeschenkt.
»Sie sagte, ihr Vater habe an einer Schule gearbeitet«, fuhr Deidre fort.
»Das Lehr-Gen kann durchaus in der Familie weitervererbt werden. Mein Vater war Lehrer und sein Vater ebenso.« Simon hatte mir zugenickt. »Und seht euch unsere Mrs. Meredith Cordingley an. Wenn sie vor ihrer Klasse steht, kann man ihren Vater erkennen, nicht wahr?«
Deidre hatte gelächelt. »Das ist mir auch aufgefallen. Es ist dieser Glanz in den Augen, wenn Sie von ihren Lieblingsfächern sprechen.«
Ich meinem Vater ähnlich? Ich hatte immer geglaubt, Clara sei diejenige, die Vaters Triebkraft und Elan geerbt hatte. Mich selbst hatte ich immer mit meiner Mutter verglichen, glücklich, sich durchs Leben treiben zu lassen. Aber vielleicht hatten sie recht, vielleicht hatte ich etwas von Dad in mir. Ich fühlte mich ein wenig kindisch, weil es mich plötzlich freute, dass meine Kollegen fanden, ich sei meinem Vater ähnlich.
Ich dachte wieder an Emily. Sie hatte etwas an sich, das mich nervös machte. Sie schien uns sehr genau zu beobachten und auf irgendetwas zu warten. Aber war das nicht albern von mir? Emily war jung, fern von zu Hause, zum ersten Mal weit weg von zu Hause. Es war nur normal, dass sie sich unter Fremden unsicher fühlte und deshalb auch ein bisschen merkwürdig wirkte. Ich sollte toleranter sein.
Jetzt richtete ich meinen Blick erneut auf Emily. Obwohl es in der Turnhalle warm war, zitterte das Mädchen in seinem teuer aussehenden petrolblauen Pullover und der langen, sehr legeren, aber gleichermaßen kostspieligen grauen Kapuzenjacke, die es anstatt der Seidenstrickjacke trug. Offenbar hatte Emily für die Reise nach England gespart. Oder sie kam aus einer gut betuchten Familie. Ich überlegte, ob Emily noch einmal darüber nachgedacht hatte, das Abitur nachzuholen. Eine merkwürdige Situation für sie: Sie unterstützte die Lehrer, war auf deren Seite, aber eigentlich nicht besser qualifiziert als einige der Sechstklässler hier auf dieser Probe.
Jenny klatschte in die Hände, damit alle zu reden aufhörten und die Probe fortgesetzt werden konnte. Olivia kam in der nächsten Szene dran und stand mit dem Textbuch in der Hand bereit, die Bühne zu betreten, wobei ihre Lippenbewegungen verrieten, dass sie ihren Text memorierte. Sie trug noch ihren Schulpullover, dessen Ärmel schlabberig über ihre Handgelenke hingen. Ich fragte mich, ob sie sich wieder selbst verletzt hatte, und hoffte, dass Cathy Jordans Intervention ausreichte, um das Mädchen davon abzuhalten, sich erneut zu schneiden. Bei der Vorstellung, dass sie aus eigenen Stücken in ihre blasse Haut schnitt,
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